Nach Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, Energie-, Migrations- und Klimakrise hat sich ein fast vergessener «Hotspot» auf der globalen Bühne zurückgemeldet: der Nahostkonflikt. Die Gewalteskalation zwischen Israel und der Hamas könnte sich zu einem Flächenbrand ausweiten. Die Welt scheint nicht aus dem Krisenmodus herauszufinden.
In einigen Ländern führt dies zu politischen Verwerfungen, etwa zum Vormarsch der AfD in Deutschland. Und in der Schweiz? In zehn Tagen finden die nationalen Wahlen statt, doch grosse Verschiebungen sind in unserem auf Stabilität angelegten System nicht zu erwarten. Das zeigt das neuste SRG-Wahlbarometer, die letzte grosse Umfrage vor den Wahlen.
Nun kann man einwenden, dass die Erhebung des Instituts Sotomo von Politgeograf Michael Hermann vor dem Terrorangriff der Hamas durchgeführt wurde. Erfahrungsgemäss aber haben Ereignisse, die unser Leben nicht direkt tangieren, wenig Einfluss auf das Verhalten der Wahlberechtigten in der Schweiz. Das wird dieses Jahr nicht anders sein.
Auffällig am aktuellen Wahlbarometer ist deshalb, dass sich gegenüber der Ausgabe vom September kaum etwas geändert hat. Die SVP legt deutlich zu, wird aber kaum alle Verluste von 2019 kompensieren. Noch deutlicher sind die Verluste der Grünen mit 3,5 Prozent, doch auch sie büssen nur einen Teil der Zugewinne bei der «Klimawahl» ein.
Unter dem Strich resultiert ein Rechtsrutsch, der wohl nicht so deutlich ausfallen werde wie 2015, heisst es im Sotomo-Bericht. Damals erreichten SVP und FDP zusammen 45,8 Prozent Wähleranteil. Gemäss der aktuellen Umfrage sind es 42,2 Prozent. Das überrascht wenig angesichts eines selbst für hiesige Verhältnisse flauen Wahlkampfs.
Einige Punkte lassen sich dennoch herauslesen:
Der lahme Wahlkampf ist auch dem Historiker Urs Altermatt aufgefallen, wie er im Interview mit CH Media ausführte. Für ihn betreiben die Parteien eine Demobilisierungsstrategie, «mit der Angela Merkel viermal deutsche Bundeskanzlerin wurde». Konkret heisst das: Nur keine Angriffe auf die Konkurrenz, da dies deren Basis aufschrecken könnte.
Selbst die SVP, die voll auf die Ausländer- und Zuwanderungskarte setzt und wie gewohnt einen emotional-populistischen Wahlkampf betreibt, hält sich anders als in früheren Zeiten mit Angriffen auf «Linke und Nette» oder «Weichsinnige» zurück. Gleichzeitig scheint es ihr im Gegensatz zur letzten Wahl wieder zu gelingen, den eigenen Anhang zu mobilisieren.
Denn die Gefahr eines «Schlafmützen»-Wahlkampfs besteht darin, dass auch die eigenen Leute ungenügend motiviert werden. Den Vogel schiessen die Grünliberalen ab, deren Slogan «Mut zur Lösung» den Spitzenplatz auf der nach oben offenen Langeweile-Skala einnimmt. Kein Wunder muss die Partei gemäss Wahlbarometer mit Verlusten rechnen.
Ende September verkündete der scheidende Gesundheitsminister Alain Berset die Hiobsbotschaft: Die Krankenkassenprämien steigen so stark an wie nie in seiner Amtszeit. Das schlägt auf das Wahlbarometer durch: Auf der Liste der wichtigsten politischen Herausforderungen liegen die Prämien nun mit grossem Abstand an der Spitze.
Auf das Wahlverhalten aber scheint sich das kaum auszuwirken. Am ehesten profitieren SP und Mitte, die das Thema aktiv bewirtschaften, doch auch sie machen in der Umfrage keine grossen Sprünge. Denn nur für die Hälfte der Befragten, die die Krankenkassenprämien als Top-Herausforderung betrachten, sind sie auch relevant für den Wahlentscheid.
Dies lässt auf eine gewisse Resignation schliessen. Die Wählerschaft scheint es den Parteien nicht zuzutrauen, das Problem in den Griff zu bekommen. Was angesichts der fruchtlosen Reformdebatten im Parlament nicht erstaunt. Die Migration hingegen motiviert drei Viertel der Befragten, die sie als Topthema betrachten. Kein Wunder legt die SVP zu.
Ein Trend scheint sich zu erhärten: Die Mitte macht der FDP den dritten Platz streitig, sie kommt neu auf 14,3 Prozent (FDP 14,1). Damit bleibt alles offen, denn der statistische Fehlerbereich liegt bei +/- 1,2 Prozentpunkten. Und vor den beiden letzten Wahlen betrug die Abweichung der Sotomo-Umfragen durchschnittlich 0,69 Prozentpunkte pro Partei.
Auch die watson-Wahlbörse sieht Mitte und Freisinn praktisch gleichauf. Der Trend der letzten Wochen aber spricht für das Fusionsprodukt aus CVP und BDP. Damit stellt sich die Frage nach der Bundesrats-Zauberformel, doch Mitte-Präsident Gerhard Pfister schliesst einen Angriff auf einen FDP-Sitz aus. Bei der nächsten Vakanz könnte sich dies ändern.
Das Schweizer System zeichnet sich dadurch aus, dass die Parlamentswahl keinen direkten Einfluss auf die Regierungsbildung hat. Auch deshalb sind die Diskussionen über einen Anspruch der Mitte müssig. Konkret aber geht es bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrats im Dezember um die Nachfolge von Alain Berset für den zweiten SP-Sitz.
Im Raum steht ein möglicher Angriff der Grünen, doch die SP kann ruhig schlafen. Denn den Grünen droht mit 9,7 Prozent der Sturz unter die psychologisch wichtige 10-Prozent-Marke. Sie wären noch etwa halb so gross wie sie SP und könnten ihren Anspruch begraben, auch wenn der Bauernverband damit kokettiert, ihnen beim Angriff auf die SP zu helfen.
Die klare Nummer eins aber bleibt die SVP. Sie könnte sogar die 30 Prozent schaffen, was sie 2015 knapp verpasst hatte und was seit Einführung der Proporzwahl 1919 keiner Partei gelungen ist. Möglich ist es, denn man traut der SVP ein «heimliches» Mobilisierungspotential irgendwie zu. Auch in dieser Hinsicht ist sie die Profiteurin des flauen Wahlkampfs.
Eigenmietwert abschaffen wird von SP aus dogmatischen Gründen bekämpft.
Die SVP lehnt dafür jede AHV-Reform ab, weil das ihrer neoliberalen Politik zuwiderläuft.
Wir brauchen mehr Vernunft, Gerechtigkeitssinn, Mut und Pragmatismus und weniger Lobby.
Grosse Reformen wie damals die AHV, BVG, KVG, NEAT usw. wären heute nicht mehr möglich. Heute können wir froh sein, wenn wir eine Zollreform für das Bündnerfleisch nach 10 Jahren durchbringen.