Es war einmal ein Kind, das in der Schule eine Geschichte las. Es war in der ersten Klasse und hatte das Lesen gerade erst gelernt. Die Geschichte hiess: «Ein Tisch ist ein Tisch». Sie war kurz und das Kind verstand jedes Wort.
In der Geschichte gab es einen alten Mann, der allein in seinem Zimmer lebte. Er betrachtete seine Möbel und fragte sich, warum der Tisch eigentlich Tisch hiess, warum der Stuhl Stuhl hiess, warum die Zeitung Zeitung hiess. Also gab er den Dingen neue Namen. Den Tisch nannte er Teppich, den Stuhl nannte er Wecker, die Zeitung nannte er Bett.
Das war lustig, fand das Kind. Es verstand den alten Mann. Es befand sich selbst in seiner Warum-Phase. Es fragte sich täglich, warum Dinge so hiessen, wie sie hiessen, warum die Menschen machten, was sie machten, warum die Welt so funktionierte, wie sie funktionierte. Und warum man das alles nicht einfach ändern konnte.
Auch den alten Mann in der Geschichte amüsierte sein Gedankenspiel. Immer mehr Begriffe tauschte er aus, erfand sein eigenes Vokabular. Das Spiel liess ihn seine Einsamkeit vergessen. Es fühlte sich an wie bunte Farbkleckse in einem grauen Alltag.
Doch dann nahm die Geschichte eine traurige Wendung. Nach und nach vergass der alte Mann, wie die Dinge eigentlich hiessen. Wenn er hinausging, verstand er die anderen Menschen nicht mehr. Und die anderen Menschen verstanden den alten Mann nicht mehr.
Am Ende zog sich der Mann in sein kleines Zimmer zurück. Überfordert von der Welt. Einsamer als je zuvor.
Die Geschichte war zu Ende. Und das Kind traurig. Es verstand, dass es eine tiefere Bedeutung dahinter geben musste. Doch welche, das konnte es noch nicht in Worte fassen.
Während das Kind heranwuchs, zog es die Geschichte immer wieder hervor. Las sie. Und dachte im Alltag an den alten Mann, der den Tisch zum Teppich umbenannte. Je älter es wurde, desto mehr Szenen erlebte es, auf die sich die tiefere Erkenntnis aus der Erzählung anwenden liess.
Etwa, wenn es alte Menschen sah, die mit der Technologie nicht mehr mitkamen und vereinsamten. Wenn es Leute beobachtete, die sich in Online-Gemeinschaften verloren, in einer eigenen Welt, mit eigenem Vokabular, das niemand in der realen Welt verstand. Wenn es sah, wie Menschen nicht mehr miteinander sprechen konnten, weil sie nicht mehr von denselben Begebenheiten, denselben Fakten ausgingen.
Das Kind, das war ich. Und der Autor der Geschichte vom alten Mann war Peter Bichsel.
Am Samstag ist er von uns gegangen. Seine Kurzgeschichten leben weiter. Sie sind auch heute noch relevant. Vielleicht sogar relevanter als je zuvor. Weil sie selbst Kinder zum Nachdenken bringen können. Über die grossen Fragen unserer Zeit.
Danke, lieber Peter Bichsel.