Schweiz
Leben

Peter Bichsels Texte sind heute noch relevant, eine Hommage

Der Schriftsteller Peter Bichsel, aufgenommen am 25. November 1993. (KEYSTONE/Martin Ruetschi)
Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel anno 1993, wie er gegen einen Tisch einen Teppich lehnt. Bild: KEYSTONE
Kommentar

Mit dieser einfachen Geschichte veränderte Peter Bichsel meine Welt

Peter Bichsel ist am Samstag verstorben. Eine Hommage an den grossen Denker und Schriftsteller. In Form einer Kurzgeschichte.
17.03.2025, 11:4217.03.2025, 23:02
Mehr «Schweiz»

Es war einmal ein Kind, das in der Schule eine Geschichte las. Es war in der ersten Klasse und hatte das Lesen gerade erst gelernt. Die Geschichte hiess: «Ein Tisch ist ein Tisch». Sie war kurz und das Kind verstand jedes Wort.

In der Geschichte gab es einen alten Mann, der allein in seinem Zimmer lebte. Er betrachtete seine Möbel und fragte sich, warum der Tisch eigentlich Tisch hiess, warum der Stuhl Stuhl hiess, warum die Zeitung Zeitung hiess. Also gab er den Dingen neue Namen. Den Tisch nannte er Teppich, den Stuhl nannte er Wecker, die Zeitung nannte er Bett.

Das war lustig, fand das Kind. Es verstand den alten Mann. Es befand sich selbst in seiner Warum-Phase. Es fragte sich täglich, warum Dinge so hiessen, wie sie hiessen, warum die Menschen machten, was sie machten, warum die Welt so funktionierte, wie sie funktionierte. Und warum man das alles nicht einfach ändern konnte.

Van Goghs Schlafzimmer in Arles, 1889.
Van Goghs Schlafzimmer in Arles (1889) als Sinnbild für das Zimmer des alten Mannes.Bild: Shutterstock

Auch den alten Mann in der Geschichte amüsierte sein Gedankenspiel. Immer mehr Begriffe tauschte er aus, erfand sein eigenes Vokabular. Das Spiel liess ihn seine Einsamkeit vergessen. Es fühlte sich an wie bunte Farbkleckse in einem grauen Alltag.

Doch dann nahm die Geschichte eine traurige Wendung. Nach und nach vergass der alte Mann, wie die Dinge eigentlich hiessen. Wenn er hinausging, verstand er die anderen Menschen nicht mehr. Und die anderen Menschen verstanden den alten Mann nicht mehr.

Am Ende zog sich der Mann in sein kleines Zimmer zurück. Überfordert von der Welt. Einsamer als je zuvor.

Die Geschichte war zu Ende. Und das Kind traurig. Es verstand, dass es eine tiefere Bedeutung dahinter geben musste. Doch welche, das konnte es noch nicht in Worte fassen.

Während das Kind heranwuchs, zog es die Geschichte immer wieder hervor. Las sie. Und dachte im Alltag an den alten Mann, der den Tisch zum Teppich umbenannte. Je älter es wurde, desto mehr Szenen erlebte es, auf die sich die tiefere Erkenntnis aus der Erzählung anwenden liess.

Etwa, wenn es alte Menschen sah, die mit der Technologie nicht mehr mitkamen und vereinsamten. Wenn es Leute beobachtete, die sich in Online-Gemeinschaften verloren, in einer eigenen Welt, mit eigenem Vokabular, das niemand in der realen Welt verstand. Wenn es sah, wie Menschen nicht mehr miteinander sprechen konnten, weil sie nicht mehr von denselben Begebenheiten, denselben Fakten ausgingen.

Das Kind, das war ich. Und der Autor der Geschichte vom alten Mann war Peter Bichsel.

Am Samstag ist er von uns gegangen. Seine Kurzgeschichten leben weiter. Sie sind auch heute noch relevant. Vielleicht sogar relevanter als je zuvor. Weil sie selbst Kinder zum Nachdenken bringen können. Über die grossen Fragen unserer Zeit.

Haben dich Peter Bichsels Texte schon zum Nachdenken gebracht?

Diese Persönlichkeiten haben uns 2025 bereits verlassen

1 / 24
Diese Persönlichkeiten haben uns 2025 bereits verlassen
2025 wird uns als Jahr, in dem Papst Franziskus [/strong]starb, in Erinnerung bleiben. Hier erinnern wir uns an ihn und viele andere: An die britische Sixties-Legende [strong]Marianne Faithfull[/strong], an den Schweizer Schriftsteller [strong]Peter Bichsel[/strong], den intergalaktisch grossen Regisseur [strong]David Lynch[/strong] oder den tragisch verstorbenen [strong]Gene Hackman und seine Frau. ... Mehr lesen
quelle: keystone / martin mejia
Auf Facebook teilenAuf X teilen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Peter Bichsel ist tot: Bilder aus seinem Leben
1 / 17
Peter Bichsel ist tot: Bilder aus seinem Leben
Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel starb 9 Tage vor seinem 90. Geburtstag in Solothurn. Hier ist er 2011 während einer Lesung in einem Kuhstall auf Alp Morgeten im Simmental zu sehen.
quelle: keystone / lukas lehmann
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Filme sind eine Verblödung der Gesellschaft!»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
14 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Pebbles F.
17.03.2025 12:40registriert Mai 2021
Merci, Aylin Erol, für den Einblick in Deine Gedanken. Ich glaube, Peter Bichsel hat sich genau so etwas gewünscht.
515
Melden
Zum Kommentar
avatar
walk the line
17.03.2025 12:04registriert Oktober 2024
"Amerika gibt es nicht".

Danke, lieber Peter Bichsel.
437
Melden
Zum Kommentar
avatar
Christian Mueller (1)
17.03.2025 12:36registriert Januar 2016
an diese Geschichte erinnere ich mich bis heute, als unser Lehrer sie uns in der Primar vorlas
364
Melden
Zum Kommentar
14
    Das Wallis ist Gastkanton an der Olma 2025

    Zum dritten Mal nach 1969 und 1996 wird das Wallis im kommenden Herbst Gastkanton an der Olma in St. Gallen. Die grösste Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung findet vom 9. bis 19. Oktober statt.

    Zur Story