Als ich ein Kind war, flogen wir jeden Herbst in die Türkei. Dort wartete jeweils ein ganzes Wohnzimmer voller Menschen auf uns. Grosseltern, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Nachbarn. Aufgereiht und angeregt schwatzend auf den Sofas. In den Händen eine Tasse Tee. Auf kleinen Tischchen Früchte, Süssigkeiten, Nüsse.
Meine Schwester und ich konnten es jeweils kaum erwarten, endlich in diesem Wohnzimmer anzukommen. Sobald unser Auto in der Gasse hielt, in der das Haus meiner Grosseltern steht, hasteten wir die Treppe hinauf. Vor der Eingangstür warfen wir unsere Sandalen auf einen Berg aus Schuhen, der sich dort bereits gebildet hatte.
Sobald wir ins Wohnzimmer traten, empfing uns ein herzliches Durcheinander aus Umarmungen, Küssen, Lachen, Erzählungen. Bis tief in die Nacht. Bis wir Kinder erschöpft einschliefen. Genau da, wo wir gerade waren: auf Sofas, Stühlen, in den Armen von Verwandten.
Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich so viel Liebe erfahren habe, wie in jenem kleinen, überfüllten Wohnzimmer. Doch als Kind war mir nicht bewusst, was für ein Glück ich hatte. Diese Erfahrung war selbstverständlich. Schön, aber selbstverständlich.
Und so verstand ich erst im Nachhinein, dass das folgende Ereignis ein Ende markierte.
Ich war sieben oder acht Jahre alt. Wie jedes Jahr ging ein glücklicher Herbst in der Türkei zu Ende. Wir mussten zurück in die Schweiz. Mein Vater räumte unser Gepäck ins Auto. Meine Schwester und ich spielten auf der Gasse, bis wir einsteigen und zum Flughafen fahren mussten. Verabschiedet hatten wir uns schon von allen.
Ich blickte nochmals hoch, auf den Balkon des verlotterten Hauses meiner Grosseltern, und verstand nicht, was ich da sah. Mein Grossvater, grösstenteils gelähmt von einem Schlaganfall, sass auf einem Plastikstuhl, winkte uns unbeholfen zu und weinte dabei bitterlich.
«Warum weint Büyükbaba denn?», fragte ich meine Mutter. «Weil er euch so sehr vermissen wird», sagte sie. «Aber das muss er doch nicht. Wir kommen ja nächstes Jahr wieder», sagte ich.
Wir mussten einsteigen. Mein Grossvater weinte und winkte noch immer. Und so taten es ihm meine Schwester und ich lächelnd gleich. Winkten ihm aus dem Auto zu, bis wir um die Ecke bogen und ihn aus den Augen verloren.
Ich wünschte, ich wäre nochmals zu ihm hochgelaufen. Ich wünschte, ich hätte ihn nochmals umarmt. Ihm einen dicken Kuss auf die Wange gegeben und ihm gesagt, wie sehr ich ihn liebhabe.
Doch damals wusste ich nicht, dass soeben meine letzte Gelegenheit verstrichen war, dies zu tun.
Im folgenden Herbst konnten wir die Familie nicht besuchen. Im Frühling darauf verstarb mein Grossvater. Drei Monate nach ihm starb auch meine Grossmutter.
Als wir das nächste Mal zu Besuch kamen, war nichts mehr wie zuvor. Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen warteten noch immer auf unser Ankommen. Die Schuhe türmten sich noch immer vor der Haustür. Umarmungen, Küsse und Lachen empfingen uns im Wohnzimmer nach wie vor. Aber über all dem lag etwas Schweres, Trauriges, Ungreifbares.
Meine Grosseltern – das Herz der Familie – fehlten. Ohne sie zerfiel die Familie langsam.
Mit jedem Jahr, in dem wir fortan zu Besuch kamen, wurde der Schuhhaufen vor der Tür kleiner. Das aufgeregte Geschwätz im Wohnzimmer leiser. Onkel und Tanten zerstreuten sich über das ganze Land. Nachbarn starben. Cousins und Cousinen gründeten eigene Familien. Das mitanzusehen, dieses Auseinanderfallen, war unglaublich schmerzhaft.
Und irgendwann bin ich im Herbst nicht mehr in die Türkei geflogen. Habe ich die Familie nicht mehr besucht. Bin ich nur noch online mit ihr in Kontakt geblieben. Lose. Oberflächlich.
Zehn Jahre lang war ich schliesslich nicht mehr in der Stadt meiner Grosseltern. Irgendwie hatte es sich einfach nicht ergeben, redete ich mir ein. Da war das Studium, die Pandemie, und zack, sind die Jahre rum.
Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich den Gang zur Familie gemieden. Aus Angst, dass nichts mehr so ist, wie es einst war. Aus Angst, dass die schönen Erinnerungen mit den neuen, traurigen Erlebnissen verblassen.
Mit dieser Strategie blieb in meinem Kopf alles beim Alten. Doch in der Türkei drehten die Uhren weiter. Ich schaffte es nicht, die Zeit anzuhalten. Das bekam ich bitter zu spüren, als ich vor einem Jahr endlich über meinen Schatten sprang und zum Haus meiner Grosseltern zurückkehrte.
Ich betrat ein Haus, vor dessen Eingang sich gar keine Schuhe mehr stapeln. In dem Stille herrscht. In dem niemand mehr wohnt. Und in dem ich einen Kloss im Hals spürte, beim Anblick der dicken Risse in den Wänden.
Das Erdbeben im Februar 2023 hat seine Spuren hinterlassen.
Zurück in der Schweiz trauerte ich lange dieser Vergangenheit nach. Und hätte dadurch beinahe verpasst zu erkennen, dass dieses Wohnzimmer, an das ich mit Liebe und Schmerz zurückdenke, gar nicht gänzlich verschwunden ist. Es hat allerdings den Ort gewechselt.
Es befindet sich jetzt in der Schweiz. Mehr noch. Anstatt dass es sich mit jedem Jahr leert, füllt es sich immer mehr mit Leben.
Nur habe ich jetzt eine andere Rolle. Nicht mehr die des Kindes, das voller Selbstverständlichkeit annimmt, dass es immer ein Wohnzimmer geben wird, in welchem man mit so viel Liebe empfangen wird. Jetzt bin ich eine von jenen, die empfängt. Eine der Erwachsenen, in deren Arme die Kinder von anderen einschlafen können. Eine jener, die den Tee bringt. Eine, die dafür sorgt, dass die nächste Generation ebenso schöne Erinnerungen an ein Wohnzimmer voller Küsse, Umarmungen, Geschichten und Lachen im Herzen tragen kann.
Ein Leben lang.
Selbst dann noch, wenn es auch dieses Wohnzimmer eines Tages nicht mehr geben wird. Dann, wenn das Heute für eine schöne alte Zeit stehen wird.
Auch ich habe wunderbare Erinnerungen an meine Grosseltern im Herzen, die leider schon lange nicht mehr leben. Die Uhr schlägt weiter, Menschen gehen von uns und andere kommen dazu. Familie verändert sich, aber die Liebe bleibt.🩷