«Warum gibt es so viel Elend und Leid auf der Welt, wenn es doch einen Gott geben soll?» Doris Strahm war 13 Jahre alt, als sie sich diese Frage zum ersten Mal stellte. Dies, nachdem sie im Religionsunterricht den Film «Mein Kampf» geschaut und erstmals vom Holocaust gehört hatte. Ein Genozid, den Menschen verübten, die den christlichen Glauben hatten. Wie kann das zusammenpassen? Und warum hatte Gott diese Grausamkeit, diese Unmenschlichkeit zugelassen?
Antworten konnte ihr damals niemand liefern. Also ging sie selbst auf die Suche.
Heute, 57 Jahre später, sitzt Strahm am Esstisch in ihrem Wohnzimmer und nippt an einem Tee. Hinter ihr am Boden steht eine Menora, ein jüdischer Kerzenständer. Ein christliches Kreuz findet man in ihrer Altbauwohnung mitten in der Stadt Basel hingegen nirgends.
Strahm gilt in der Schweiz inzwischen als «Pionierin der feministischen Theologie». Für ihr Engagement verlieh ihr die Universität Bern 2020 den Ehrendoktortitel. Darüber freut sich Strahm auch drei Jahre später noch sehr. Er ist eine der wenigen Anerkennungen, die sie für ihr Schaffen erhalten hat. Von der katholischen Kirche hat sie nie Dank oder Wertschätzung erfahren. «Wieso auch?», fragt Strahm rhetorisch und fügt an:
Wenn man Strahm fragt, was aus ihrer Sicht falsch läuft in der katholischen Kirche, kann sie zu einem einstündigen Monolog ausholen. Sie erzählt dabei so leidenschaftlich, dass man gar nicht anders kann, als ihr an den Lippen zu hängen. Sie beginnt mit:
Strahm hat viele Beispiele. Leid verursache die Kirche etwa mit ihrer Sexualmoral. Mit ihrer Lehre, die sich einzig auf männliche Propheten, Jünger, Apostel konzentriert, «dabei gab es nachweislich auch Frauen in diesen Positionen». Mit ihrer Sprache von Gott als «Herr», «König», «Richter», obwohl es in der Bibel auch weibliche Gottesbilder wie «Mutter», «Gebärende» oder die «weibliche Weisheit» gibt.
Mit ihrem Festhalten am Zölibat, den die Kirche erst im 12. Jahrhundert verbindlich eingeführt hatte. Mit ihrem Ausschluss der Frauen vom Priesteramt und damit aus allen kirchlichen Entscheidungs- und Machtpositionen, obwohl sich dieses Verbot aus dem Neuen Testament nicht herleiten lässt. Und nicht zuletzt: «Mit ihrer langen Missbrauchsgeschichte.»
Eine Missbrauchsgeschichte, die noch immer nicht vorbei ist.
Im September deckte eine Studie der Universität Zürich 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz innerhalb der letzten 70 Jahre auf.
Strahm ist weder überrascht noch schockiert ob dieser Ergebnisse. Sie hat in der Vergangenheit schon einige Texte geschrieben, in denen sie genau das, was die Studie zu Tage geführt hat, anprangerte. Nämlich, dass die katholische Kirche lieber die Täter in ihren Reihen schützt als ihre Gemeindemitglieder – und so bis heute weitere Missbräuche begünstigt.
Die Studie will sie darum nicht einmal mehr lesen. «Ich werde darin nichts finden, was ich nicht schon längst wusste», sagt Strahm. Sie zuckt die Schultern. Hat längst resigniert. Denn:
Trotz aller Kritik blieb Strahm noch lange Mitglied in der katholischen Kirche. Nach jedem Skandal habe sie sich Gründe zurechtgelegt, weshalb sie nicht austreten sollte:
Strahm berichtet sichtlich enttäuscht davon, wie sie jahrelang glaubte, als Theologin und Katholikin etwas in der katholischen Kirche bewirken zu können. So wie viele Gläubige. Denn das Traurige sei ja: An der Basis gebe es sehr viele tolle, aufgeklärte Menschen, die die Kirche kritisierten und sich für Verbesserungen einsetzten. Ganz besonders Frauen, die ehrenamtlich wichtige soziale Aufgaben für die Gesellschaft übernehmen würden.
Doch all das sei nichts wert. Denn die Basis hat in der Kirche kein Mitspracherecht.
Die katholische Kirche sei ein hierarchisches System von geweihten Männern, in welchem der Papst autokratisch regiere. Er gilt als unfehlbar und ist damit unantastbar.
Nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie sind die Forderungen der Katholikinnen und Katholiken nach der Zulassung von Frauen ins Priesteramt wieder lauter geworden. Sie erhoffen sich wohl, dass so das Missbrauchspotenzial im Umfeld der katholischen Kirche verringert werden könnte. Auch über diese Diskussion kann Strahm nur entmutigt den Kopf schütteln.
Einerseits glaubt sie nicht, dass sie den Tag noch erleben wird, an dem der Papst Frauen im Priesteramt zulassen wird. Andererseits bezweifelt sie, dass dieser Schritt die Missstände in der katholischen Kirche beheben könnte. Strahm geht mit ihrer These sogar noch weiter:
Denn der Klerikalismus, also die Vorstellung, dass die Priesterweihe einen Menschen «heilig» und unantastbar mache, bleibe bestehen. Genauso wie die antidemokratischen, hierarchisch-autokratischen Machtstrukturen innerhalb der katholischen Kirche. Genau diese zwei Faktoren würden Machtmissbrauch und sexuellen Missbrauch begünstigen.
Dass ein Papstwechsel noch nichts bedeuten muss, zeigt auch Papst Franziskus. Als er 2013 gewählt wurde, hofften viele Gläubige, dass er die katholische Kirche in eine zeitgemässere Richtung lenken wird. Er galt als liberal.
Doch ausgerechnet Papst Franziskus brachte 2018 bei Strahm das Fass zum Überlaufen, als er in einer Rede Abtreibungen mit «Auftragsmord» verglich. Noch heute macht Strahm diese Aussage unglaublich wütend. Auf ihrer Stirn bildet sich eine Zornesfalte. «Wie kann man nur auf so einen ungeheuerlichen Vergleich kommen?»
Aus Protest trat Strahm darum kurz darauf zusammen mit fünf weiteren Feministinnen öffentlichkeitswirksam aus der katholischen Kirche aus. In einer Mitteilung schrieben die Frauen: «Den römisch-katholischen Machtapparat mit seiner patriarchalen Theologie wollen wir mit unserer Mitgliedschaft nicht länger unterstützen!»
Der Austritt war der richtige Schritt für Strahm. Mit ihm fiel eine regelrechte Last von ihr ab:
Mit dem Kirchenaustritt findet auch das Gespräch langsam sein Ende. Die Teetasse ist leer. Die Zornesfalte wieder glatt. Nur eine Frage ist noch offen: Hat Strahm inzwischen Antworten auf die Fragen ihres 13-jährigen Ichs gefunden? «Ja, aber meine ganz eigenen, manchmal auch zweifelnden Antworten. So wie das mit dem Glauben eben ist.» Strahm lächelt.
Strahm ist auch heute noch gläubig. Wenn sie von Gott spricht, stellt sie ihn sich jedoch weder als Mann noch als Frau vor. Eher als etwas Ungreifbares, als eine Kraft, die man etwa in zwischenmenschlichen Beziehungen erfährt.
«Ich glaube an das, was der jüdische Prophet Jesus ursprünglich predigte: das Reich Gottes als eine gerechte Gesellschaft, in der niemand ausgeschlossen wird.» Und sie glaubt daran, dass die Menschen sich für diese Gerechtigkeit einsetzen, sie selbst miterschaffen müssen. Im Hier und Jetzt.
Und genau desshalb und genügend anderen Gründen, nützt nur der Austritt aus diesem Verein.