Vor einem Jahr beauftragte die Schweizerische Bischofskonferenz die beiden Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier von der Universität Zürich mit einer bedeutungsvollen Aufgabe. Sie sollten eine Vorstudie unternehmen, um sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz aufzuarbeiten. Dafür öffnete die katholische Kirche erstmals ihre Archive.
Im vergangenen Jahr analysierten die Forscherinnen nun zahlreiche Dokumente und führten ergänzend dazu Gespräche mit Betroffenen, die sich über Opferorganisationen mit ihnen in Kontakt setzten. Heute liessen Dommann und Meier die Bombe platzen. Sie veröffentlichen ihren Bericht und legen damit strukturelle Missstände, die teilweise noch immer nicht behoben sind, in der katholischen Kirche in der Schweiz offen.
Die wichtigsten Erkenntnisse daraus findest du hier:
Die Forschenden konnten in den Akten der katholischen Kirche in 1002 Fällen Belege für sexuellen Missbrauch finden. 74 Prozent dieser Belege behandeln sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Wie die Forschenden schreiben, sei dabei «das gesamte Altersspektrum» vertreten gewesen.
So makaber es klingt. Diese Ausgangslage überraschte die Forschenden nicht. Eine andere Zahl hingegen schon: 14 Prozent und damit jeder siebte Missbrauchsfall betraf zum Tatzeitpunkt Erwachsene. «Dies ist umso bedeutsamer, weil sich viele bisherige Studien zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche ausschliesslich auf Minderjährige fokussierten und so einen relevanten Teil der Betroffenen nicht in den Blick nahm», heisst es im Bericht.
In 39 Prozent der Fälle waren die Betroffenen weiblich. In 56 Prozent der Fälle männlich. Fünf Prozent der Betroffenen konnten die Forschenden kein Geschlecht zuordnen.
Insgesamt identifizierte die Vorstudie 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Die Beschuldigten waren – bis auf wenige Ausnahmen – immer Männer. In über 50 Prozent der analysierten Fälle war eine in der Pastoral tätige Person Täter. Also etwa Priester. Die Forschenden schlussfolgern, dass die Seelsorge, die Liturgie – insbesondere bei Kontakt zu Ministrantinnen und Ministranten – und die Pädagogik, etwa im Religionsunterricht, besonders anfällig für sexuellen Missbrauch sind.
Mit 30 Prozent der Fälle am zweithäufigsten fand sexueller Missbrauch im Bildungs- und Fürsorgebereich statt. Also etwa in Heimen, Schulen, Internaten und ähnlichen Anstalten. Vor allem bis Mitte der 1990er-Jahre übernahmen diese kirchlichen Institutionen wichtige Aufgaben für den Staat.
Nur 2 Prozent der sexuellen Missbrauchsfälle konnte die Vorstudie in Orden oder ähnlichen Gemeinschaften festmachen. Das heisst jedoch nicht, dass es dort kaum zu sexuellen Missbräuchen kam oder kommt. Viel mehr war die Quellenlage bei Ordensgemeinschaften und Co. besonders schwierig. Schriften, die sexuellen Missbrauch dokumentieren, existierten entweder nicht oder waren den Forschenden nicht zugänglich.
Die Forschenden untersuchten die letzten 70 Jahre und kamen zum Schluss:
Knapp 22 Prozent der ausgewerteten Fälle konnten sie auf den Zeitraum zwischen 1950 und 1959 festmachen. 25 Prozent der Fälle ereigneten sich zwischen 1960 und 1969. «In den darauffolgenden drei Jahrzehnten konnten jeweils noch rund ein Zehntel der Fälle zugeordnet werden», heisst es weiter. Zwischen 2000 und 2022 fanden schliesslich noch 12 Prozent der ausgewerteten Fälle statt.
Heisst das, sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche wurde über die Jahre weniger? Leider nicht unbedingt. Denn wie die Forschenden schreiben, sei zu beachten, dass Betroffene oft erst Jahrzehnte später über ihren Missbrauch sprechen. «Es ist deshalb möglich, dass ein beträchtlicher Teil der Fälle nach der Jahrtausendwende bislang noch nicht gemeldet wurde.»
Die Forschenden ziehen nach einem Jahr intensiver Gespräche mit Betroffenen und Untersuchungen der Akten der Kirche ein eindeutiges Fazit: «Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifelsfrei nur um die Spitze des Eisbergs.» Dies, weil sie zahlreiche Archive nicht auswerten konnten. Darunter eine Vielzahl von Archiven von Ordensgemeinschaften, Dokumente aus der Arbeit von diözesanen Gremien und Beständen von katholischen Schulen, Internaten und Heimen.
Ausserdem lag der Fokus ihrer Vorstudie auf kirchlichen Archiven. Staatliche hätten sie noch nicht ergänzend berücksichtigen können. «In diesen dürften weitere Fälle von Missbrauch dokumentiert sein, die bisher nicht erfasst werden konnten.»
Doch selbst eine vollständige Auswertung aller kirchlichen und staatlichen Archive würde nicht ausreichen, um das Ausmass sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Umfeld nachzeichnen zu können. So seien zahlreiche Akten, die Missbrauch belegen könnten, vernichtet worden. In zwei Fällen können die Forschenden das belegen. In anderen Fällen müssen sie davon ausgehen, dass Bischöfe, Gremien und Co. Dokumente vernichteten, weil das kanonische Recht dies teilweise sogar erlaubt.
Auch kann der Bericht teilweise belegen, dass Meldungen von Betroffenen von der Kirche nicht konsequent schriftlich festgehalten wurden. Die Forschenden gehen darum von einer deutlich höheren Dunkelziffer von Fällen sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche aus, als sie bisher für die vergangenen 70 Jahre belegen können.
Die Forschenden wollen klar weg vom Narrativ, dass die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in der Schweiz Einzelfälle sind. Stattdessen prangern sie die Machtkonstellationen der katholischen Kirche an, die sexuellen Missbrauch begünstigen.
Diese spezielle spirituelle, soziale und ökonomische Machtkonstellation benennen sie mit «speziell katholisch». Sie erklären:
Obwohl Macht nicht automatisch zu Missbrauch führe, sei dennoch «Missbrauch ohne Macht undenkbar». Hinzu komme, dass ihre Rolle als fürsorgliche und verzeihende «Väter» in einem starken Kontrast zu der Rolle als richterliche und damit strafende Gewalt stehe.
«Das Ergebnis war für viele Jahrzehnte Bagatellisierung und Vertuschung von sexuellem Missbrauch.» Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sind damit nicht das Ergebnis von Fehlverhalten einzelner Personen. Sie sind systematisch und sie sind strukturell.
Mitarbeitende der Kirche müssen sich nicht nur an das Strafgesetzbuch halten, sondern auch an das kanonische Recht. Auch dieses sieht sexuellen Missbrauch als schwerwiegenden kirchenrechtlichen Straftatbestand an. Theoretisch. Doch wie die Forschenden herausfanden:
Meldete sich etwa ein Kind oder dessen Eltern mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs durch einen Priester beim Bischof, so wurde der Beschuldigte meist einfach in eine andere Gemeinde versetzt. Drohte eine staatliche Strafverfolgung, versetzten sie die Beschuldigten häufig ins Ausland. Diese Praxis sei systematisch und «in einer grossen Zahl von Fällen» angewendet worden, halten die Forschenden fest.
Mit dieser Strategie hätten die Verantwortungsträger der katholischen Kirche nicht nur Täter geschützt, sondern diesen auch noch weitere Missbräuche ermöglicht. Ihr Fazit:
Diese Praxis änderte sich gemäss dem Bericht erst ab 2010, nachdem zahlreiche Missbrauchsfälle durch Schweizer Medien an die Öffentlichkeit gelangt waren. Seither werde die Verpflichtung zu kirchlichen Strafverfahren und zu Meldungen von Fällen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen nach Rom konsequenter umgesetzt. Eine kircheninterne Meldepflicht gibt es hingegen erst seit 2019.
2001 beschloss die Schweizer Bischofskonferenz, dass jedes Bistum ein Fachgremium «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» einsetzen muss. Die Auswirkungen dieser ab 2002 gebildeten Fachgremien sei sichtbar, schreiben die Forschenden: «65 Prozent aller ausgewerteten Fälle wurden erst nach der Gründung der Fachgremien gemeldet, obwohl sich von 2002 und 2022 nur rund ein Fünftel der Fälle ereignete.»
Dennoch sind die Forschenden ob ihrer Wirksamkeit nicht vollends überzeugt. Einerseits, weil diese keinerlei Konsequenzen aussprechen können, sondern lediglich Empfehlungen und Vorschläge formulieren dürfen. Andererseits, weil die Gremien unterschiedlich stark professionalisiert sind.
Der Bericht weist ausserdem auf einen Fall im Bistum St.Gallen hin, der sich 2002 ereignete. Trotz mehrfachen Bemühungen des nationalen Fachgremiums seien über Jahre hinweg keinerlei Massnahmen gegen einen Priester unternommen worden. «Selbst als die Anschuldigungen wiederholt, konkreter und überprüfbar wurden.» Die Forschenden folgern daraus:
Sechs Bischöfe, von denen vier noch immer im Amt sind, hätten mehrere Fälle von mutmasslichem sexuellem Missbrauch vertuscht. Einer von ihnen habe sich sogar selbst an einem Jugendlichen vergriffen. Diese Anschuldigungen schrieb Nicolas Betticher, ehemaliger Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg und ehemaliger Sprecher der Schweizer Bischöfe, in einem Brief an den Botschafter des Papstes in der Schweiz. Am Wochenende machte der «Sonntagsblick», dem der Brief vorliegt, deren Inhalt publik.
Wie daraus hervorgeht, haben die von Betticher beschuldigten Bischöfe in mehreren Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester keine strafrechtlichen oder kirchenrechtlichen Konsequenzen eingeleitet, sondern die Priester befördert oder ins Ausland versetzt. In einem Interview mit SRF sagt Betticher ausserdem, dass sich einige dieser mutmasslichen Missbrauchsfälle in den letzten zehn Jahren ereigneten. Sie sind also relativ aktuell.
Erweisen sich seine Vorwürfe als wahr, würde das bedeuten, dass sich der Umgang der katholischen Kirche in der Schweiz mit Fällen sexuellen Missbrauchs noch immer nicht verändert hat. Noch immer werden Täter geschützt, Taten vertuscht und die Interessen der Würdenträger der katholischen Kirche über das Wohl der Glaubensgemeinschaft gestellt.
Aber immerhin hat sich schon eine Neuerung abgezeichnet: Der Vatikan hat auf Bettichers Vorwürfe reagiert und den Bischof von Chur beauftragt, eine interne Voruntersuchung vorzunehmen. Zu einem solchen Schritt – vom Vatikan angeordnete Untersuchungen gegen ranghohe Kleriker – ist es in der Schweiz noch nie gekommen.
Auch die Schweizer Staatsanwaltschaft ist in den Ermittlungen involviert. Gemäss dem «Sonntagsblick» sind bereits vier Anzeigen im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen eingegangen.