«Es gibt ein grosses Redebedürfnis. Einige Menschen weinen am Telefon. Manche berichten zum ersten Mal über das Leid, das sie vor Jahrzehnten erfahren haben», sagt Vreni Peterer. Die 62-jährige Appenzellerin, Präsidentin der IG für missbrauchsbetroffene Menschen im katholischen Umfeld (IG Miku), kennt das Phänomen aus eigener Erfahrung. Sie wurde in ihrer Jugend vom Dorfpfarrer vergewaltigt und vertraute diese Geschichte erst etwa 50 Jahre später einem anderen Menschen an. Jetzt berät sie selber Opfer.
Am 12. September haben Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich eine Pilotstudie präsentiert. Darin dokumentieren sie 1002 Fälle von sexuellen Übergriffen in der katholischen Kirche von 1950 bis heute dokumentiert.
Das Thema wird seither in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Viele Opfer getrauen sich jetzt erstmals, ihre Fälle zu melden. Allein an die IG Miku haben sich bis jetzt über 20 Personen gewandt. Meistens handelt es sich um Direktbetroffene, manchmal um Angehörige. Alle neu gemeldeten Übergriffe seien verjährt und könnten nicht mehr durch die Staatsanwaltschaft verfolgt werden, sagt Peterer.
Es ist gut möglich, dass einige ihre Geschichte auch den Forscherinnen und Forschern der Universität Zürich (forschung-missbrauch@hist.uzh.ch) erzählen werden. Im Auftrag der Schweizer Bischöfe, der Landeskirchen und der Vereinigung der Orden führen sie eine weitere Studie durch, die weitere Fälle ans Licht bringen dürfte.
Auch bei Sapec, dem Pendant zur IG Miku in der Romandie, haben in den letzten Wochen etwa 20 direkt oder indirekt Betroffene Rat und Unterstützung gesucht, sagt Präsident Jacques Nuoffer. Es hätten sich teils auch Personen bei der Organisation gemeldet, die nicht im kirchlichen Umfeld Opfer geworden seien.
2010 erfasste die Missbrauchsthematik die katholische Schweiz erstmals mit voller Wucht. In diesem Jahr wandten sich 124 Personen an die Meldestellen der sechs Schweizer Bistümer. Auch jetzt verzeichnen sie einen erhöhten Eingang. Seit Veröffentlichung der Zürcher Studie haben sich mindestens 40 Personen an die Meldestellen der Bischöfe gewandt. Interessant auch hier: Die meisten Vorkommnisse ereigneten sich vor Jahrzehnten.
Im Bistum Basel beispielsweise liegen neun neue Fälle von mutmasslichen Übergriffen 40 bis 80 Jahre zurück, drei zwischen 10 und 20 Jahren. Ein gemeldetes Ereignis fand in den letzten 10 Jahren statt. Das Bistum prüft in diesem Fall, bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige einzureichen.
Ende 2016 haben die Bischöfe einen Genugtuungsfonds für Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld geschaffen. Damit anerkennt die katholische Kirche ihre Verantwortung gegenüber den Betroffenen. Es handelt es nicht um Wiedergutmachung, sondern um Gesten, «weil Geld den zugefügten Schaden und die erlittenen Nöte nicht beseitigen kann», wie es in den Richtlinien heisst.
Alimentiert wird der Fonds zum grössten Teil durch die Bistümer, den Rest tragen die Landeskirchen und die Orden bei. Operativ verantwortlich für den Fonds ist die Kommission Genugtuung. Bis jetzt zahlte sie ungefähr 2.8 Millionen Franken an rund 180 Opfer aus, die meistens schon das Seniorenalter erreicht haben. Abgelehnt hat die Kommission laut Präsidentin Liliane Gross bis jetzt lediglich drei Gesuche. Der Höchstbetrag beträgt aktuell 20'000 Franken, im Schnitt erhalten die Betroffenen etwa 15'000 Franken.
Jetzt werden Forderungen nach mehr Grosszügigkeit laut. IG-Miku-Präsidentin Vreni Peterer verlangt, dass alle Betroffenen den Höchstbetrag erhalten, und dass die Kirche zudem sämtliche Therapiekosten übernimmt, welche für die Opfer durch die psychischen und physischen Wunden der erlittenen Übergriffe entstehen. «Ich sehe es bei mir. Ein Jahr Therapien, Arztbesuche, Medikamente und Arbeitsunfähigkeit haben finanziell sämtliche Entschädigungen aufgefressen», sagte Peterer gegenüber der «Sonntagszeitung».
Liliane Gross signalisiert Unterstützung für das Anliegen. Sie fände es richtig, bei der Zusprache eines Genugtuungsbeitrags individueller zu schauen, welche ungedeckten Kosten, etwa für Ärzte und Therapien, bei den Opfern angefallen sind und diese auch zu übernehmen.
Als Reaktion auf den Missbrauchskandal haben die Schweizer Bischöfe ein neues nationales Kirchengericht angekündigt, das aus kirchlichen und externen Experten bestehen soll. Die Westschweizer Opferorganisation Sapec begrüsst diesen Schritt grundsätzlich, verlangt aber, dass neu geplante Gremium durch den Bundesrat geschaffen und mit weltlichen Richtern und Strafverfolgern bestückt wird. Dies hat Sapec in einem offenen Brief an Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider festgehalten.
«Ausserordentliche Situationen erfordern ausserordentliche Lösungen», schreibt Sapec. Die meisten der neu aufgedeckten Fälle seien verjährt und damit der zivilen Strafverfolgung entzogen. «Aber die Täter leben immer noch und feiern weiterhin die heilige Messe. Für die Opfer ist das inakzeptabel.» Das Justizdepartemente bestätigte den Eingang des Schreibens, äussert sich aber noch nicht zur konkreten Forderung.
Warum? Der Fall ist ja jetzt bekannt und Missbrauch ist ein Offizialdelikt. Die Staatsanwaltschaft müsste von sich aus aktiv werden und zwar ZZ ziemlich zügig.