Jacqueline Straub, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie den Missbrauchsbericht der Historikerinnen der Universität Zürich gelesen haben?
JACQUELINE STRAUB: Es ist schrecklich, was da drinsteht. Die Zahl ist schrecklich, weil hinter jedem Fall ein Mensch steht, der immer noch zu kämpfen hat. Und es ist nur die Spitze des Eisbergs, da wird noch mehr kommen. Die Studie war überfällig, das hätte man schon vor 20 Jahren aufarbeiten müssen. Dadurch hätte weiterer Missbrauch verhindert werden können. Gleichzeitig habe ich damit gerechnet, die Schweiz ist keine Insel der Seligen, es ist dasselbe Bild wie in Deutschland, Irland, Frankreich.
Am Mittwoch haben die Mitglieder der Bischofskonferenz reagiert – aus Ihrer Sicht adäquat?
Nein. Ich finde es bedenklich, dass die Personen, gegen die eine Untersuchung geführt wird, nicht wenigstens zwischenzeitlich ihre Ämter ruhen lassen. Das Paradoxe ist, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger abgestraft werden, wenn sie – in den Augen der Amtskirche – etwas liturgisch nicht Korrektes machen. Aber Bischöfe, die Missbräuche vertuscht oder gar selbst begangen haben, machen vorerst weiter, als wäre nichts geschehen.
Eine Ausnahme ist Abt Jean Scarcella, gegen den Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs im Raum stehen.
Ja, es ist richtig, dass er sein Amt ruhen lässt. Ich finde es gut, dass er proaktiv diesen Schritt kommuniziert hat. Ob jemand Täter oder Vertuscher ist, macht am Ende für die Opfer aber keinen Unterschied. Es wurde jahrzehntelang weggeschaut. Jetzt müssen die Überlebenden im Mittelpunkt stehen, und es muss alles getan werden, dass ihnen auch nur ein kleines bisschen Gerechtigkeit widerfährt.
Bischof Bonnemain, der die Untersuchung leitet, ist selber Mitglied der neunköpfigen Bischofskonferenz, das heisst, er muss Vorwürfe gegen fünf Kollegen aus diesem Gremium untersuchen. Diese Konstellation macht keinen Sinn.
Nein, das ist völlig absurd. Es braucht einen externen Sonderermittler, eine unabhängige Person oder gar eine Gruppe. Es kann nicht sein, dass Bischof Bonnemain gegen seine eigenen Amtsbrüder ermitteln muss. Da gibt es immer eine gewisse Befangenheit. Ich finde es problematisch, wenn die katholische Amtskirche die Missbrauchsfälle und Vertuschungen allein aufklären will. Vor allem, weil sie oft nicht transparent vorgeht. Nur durch die Recherche des «Sonntags-Blicks» kam überhaupt ans Licht, dass es eine Untersuchung gibt. Der Abschlussbericht wird dann nach Rom geschickt. Was dann passiert, wird im stillen Kämmerlein besprochen.
Zurücktreten können Bischöfe nur, wenn der Papst einwilligt. In Deutschland hat er das in mehreren Fällen nicht getan, als Missbrauchsfälle bekannt wurden. Wie erklärt sich das?
Es kommt darauf an, was im Rücktrittsschreiben an den Papst drinsteht. Wenn man anführt, dass man gesundheitlich angeschlagen sei und keine Kraft mehr für das Amt habe, nimmt der Papst das Gesuch an. Zudem gibt es auch kirchenrechtlich die Möglichkeit zurückzutreten, ohne dass der Papst zustimmt. Etwa, wenn ein Bischof sagt, er habe so viel Schuld auf sich geladen, dass die Gläubigen nicht mehr hinter ihm stünden und er der Glaubwürdigkeit der Kirche schade. Das braucht aber Mut und Stärke. Es ist einfacher, nach Rom zu schreiben und dann zu sagen: Er hat mein Rücktrittsgesuch abgelehnt.
Zurück zur Studie: Ein Problem ist, dass viele Akten nicht mehr greifbar waren. Gerechtfertigt wird das von den Verantwortlichen mit dem Kirchenrecht, das vorsieht, Akten nach zehn Jahren zu vernichten.
Ja, aber für vernichtete Akten muss man immer noch eine Notiz hinterlassen, auf der steht, worum es sich gehandelt hat und wer der Täter war. Teilweise waren auch diese Notizen nicht mehr vorhanden. So müssen die Historikerinnen mühsam mögliche Missbrauchsfälle rekonstruieren. Dabei handelt es sich um Verbrecher. Für mich spricht alles dafür, dass man diese Akten nach zehn Jahren nicht vernichtet - der Papst wird ja nicht erfahren, dass jemand Akten nicht geschreddert hat.
Es fehlt an Zivilcourage, an Moral.
Durchaus. Was mich am meisten wütend macht, ist, dass sich die Kirche Friedensstiftung auf die Fahne schreibt, gleichzeitig aber zerstört sie Seelen. Ich würde mir von den Amtsträgern wünschen, dass sie hinstehen und alle nötigen Konsequenzen ziehen.
Verliert die katholische Kirche gerade ihre letzte Glaubwürdigkeit?
Die Doppelmoral ist seit Jahren der Grund, warum so viele Leute aus der Kirche austreten. Da wird Seelsorgerin Monika Schmid abgestraft, weil sie das Hochgebet gesprochen hat. Aber wenn Bischöfe Missbräuche vertuschen, passiert wenig. Das passt nicht zusammen. Die Amtsträger verspielen die Glaubwürdigkeit, dabei gibt es viele gute Menschen in den Pfarreien.
Was würde sich ändern, wenn das Zölibat freiwillig und Frauen als Priesterinnen zugelassen würden?
Man kann nicht direkt vom Zölibat auf Missbrauch schliessen, aber man weiss, dass Männer mit einer pädophilen Neigung oder mit einer sehr unreflektierten Sexualität gerne ins Priesterseminar geflüchtet sind. Dabei haben sie Macht gewonnen. Wenn die Weihe für alle offen stehen würde, wäre das System weniger anfällig für Übergriffe. Männerbündnisse, das geschlossene, hierarchische System der Kirche und das Zölibat begünstigen Missbrauch.
Welche Reformen braucht es sonst noch?
Die katholische Kirche muss ihre Sexualmoral überdenken. Denn diese hat – das zeigt die Studie ebenfalls – auch dazu beigetragen, dass Missbrauch begünstigt und zu spät gehandelt wurde.
Bleiben Sie trotz allem in der katholischen Kirche?
Ja, weil ich eine Stimme sein will für alle betroffenen Menschen. Ich kenne Überlebende, die lange mundtot gemacht worden sind. Ich möchte dazu beitragen, dass sich die Strukturen ändern, dass Missbrauch minimiert wird. Im Moment bin ich noch in einem Gefühlschaos: Wut, Ekel, Scham. Aber ich bleibe in der Kirche, weil ich etwas verändern möchte. Sonst bleiben nur Leute, die kein Interesse daran haben, Gerechtigkeit zu finden. (aargauerzeitung.ch)
Das Verhältnis zur Sexualität ist befremdend.