«Ich habe mir im Vornherein fest vorgenommen heute nicht zu weinen. Ich muss gestehen, vorher war ich nicht mehr in der Lage, die Tränen zurückzuhalten. Dafür schäme ich mich nicht. Heute werden viele Betroffene weinen.» Mit diesen Worten begann Vreni Peterer am Dienstagmorgen ihr Statement an der Medienkonferenz, an der die Universität Zürich ihre Vorstudie zu sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche vorstellte.
Die zuvor präsentierten Resultate: 1002 belegte Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche innerhalb der letzten 70 Jahre. Die meisten Betroffenen waren Minderjährige. Die meisten Täter Priester. «Das ist nur die Spitze des Eisbergs», sagte Historikerin Monika Dommann an der Pressekonferenz mehrmals.
1002 Fälle von sexuellem Missbrauch. Diese Zahl hallte in Vreni Peterers Kopf nach. «Ich stellte mir all die Betroffenen vor. All die einzelnen Schicksale. All das Leid, das die Kirche verursacht hat. Und so kamen mir unweigerlich die Tränen», erzählt sie im Anschluss zur Pressekonferenz gegenüber watson.
Peterer ist nicht nur Präsidentin der IG-Miku, der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld. Sie ist auch selbst Betroffene. Oder «Überlebende», wie sie es lieber nennt.
In den 1970er-Jahren wurde Vreni Peterer im Alter von zehn Jahren von ihrem Priester am Waldrand vergewaltigt. Anschliessend drohte er ihr, dass sie in die Hölle käme, zum Teufel höchstpersönlich, wenn sie mit jemandem über den Vorfall sprach. «Ich hatte massiv Angst», sagt Peterer.
Mit dieser Drohung brachte der Priester sie zum Schweigen. «Und noch heute habe ich bis zu einem gewissen Grad Angst davor, was mit mir nach meinem letzten Atemzug passiert.» Diese Angst sitze so tief, sie lasse sich nicht wegrationalisieren. Auch nach vielen Therapiestunden nicht. Auch nicht im Alter von 62 Jahren.
Was Peterer hier schildert, benennen die Historikerinnen in ihrem Bericht mit «spirituellem Missbrauch». Mit ihrer Recherche konnten sie nachweisen, wie Täter ihre Opfer im Namen der Religion gefügig machten und/ oder zum Schweigen brachten. Beim Lesen der Vorstudie wurde Vreni Peterer darum eines klar:
Erst 2018 brach Peterer ihr Schweigen. Sie kontaktierte das für Missbrauchsmeldungen zuständige Fachgremium des Bistums St.Gallen. Dadurch fand sie nicht nur heraus, dass ihr Peiniger bereits verstorben war. Sie erfuhr auch, dass er einst zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt wurde. «Weil er Schülerinnen im Religionsunterricht zu nahe gekommen ist», wie aus staatlichen Gerichtsdokumenten hervorgeht.
Vreni Peterer verlangte vom Bistum St.Gallen schliesslich Einsicht in die Personalakte des Priesters. Dort fand sie keine Nennung von sexuellen Missbräuchen. Dafür viele Briefe. In diesen setzte sich ein Vorgesetzter ihres Peinigers dafür ein, dass dieser nach seiner Verurteilung für ein Jahr von der Bildfläche verschwinden und Gras über die Sache wachsen konnte.
Danach sorgte er dafür, dass der vorbestrafte Priester wieder eingesetzt werden konnte. Dafür versetzte man ihn einfach in eine andere Gemeinde. In Vreni Peterers Gemeinde.
«Als ich das herausfand, stürzte ich in ein tiefes Loch. Und hatte gleichzeitig eine unglaublich grosse Wut in mir», sagt Peterer. So viele Fragen prasselten auf sie nieder. Warum hatte die Kirche sie nicht vor diesem Mann geschützt? Vor diesem vorverurteilten Straftäter? Warum hatte sie stattdessen auch noch versucht, die Sache zu vertuschen?
Auch dieser Teil Peterers Geschichte steht sinnbildlich für die Art und Weise, wie die katholische Kirche in den letzten 70 Jahren mit vorbestraften oder von Gemeindemitgliedern beschuldigten Priestern umging.
Die Forschenden führen in ihrem Bericht einen Fall aus den 60er-Jahren auf. Damals konnte ein Priester über Jahre hinweg mindestens 67 Minderjährige missbrauchen, weil ihn seine Vorgesetzten jeweils einfach versetzten, wenn Missbrauchsvorwürfe im Raum standen. Selbst, nachdem der Priester wegen fortgesetzter Unzucht mit Kindern zwei Jahre ins Gefängnis musste.
Wie die Vorstudie offenlegte, schrieb sein zuständiger Domherr in einem Brief:
Das kanonische Recht, das sexuellen Missbrauch ebenfalls verbietet, wurde kaum angewandt, wie die Forschenden Schlussfolgern. Weder in diesem Fall, noch im Fall von Vreni Peterer. «Verschweigen, Vertuschen, Ignorieren, Bagatellisieren», so lautete gemäss Historikerin Marietta Meier die Strategie der Kirche.
Vertuschen ging am heutigen Tag nicht mehr. Joseph Bonnemain, der Bischof von Chur, stellte sich als Vertreter der Bischofskonferenz den Medien. Er fand klare Worte:
Bonnemain kündigte vier Massnahmen an. Erstens, soll eine professionelle, unabhängige Fachstelle eingerichtet werden, an die sich Betroffene wenden und Missbräuche melden können.
Zweitens, soll für alle kirchlichen Angestellten künftig eine standardisierte psychologische Prüfung durchgeführt werden. Drittens, soll das Personalwesen innerhalb der Kirche professionalisiert werden, so dass sichergestellt werden kann, dass etwa Informationen zu Missbräuchen durch einen Angestellten in seinen Personalakten hinterlegt sind. Und viertens: Aktenvernichtung wird verboten. Alle Bistümer der Schweiz hätten bereits eine Selbstverpflichtung dazu unterschrieben.
Der Auftritt von Bonnemain kam bei Vreni Peterer grösstenteils gut an. «Ich habe ihn noch nie so bestimmt erlebt.» Sie nehme ihm ehrlich ab, dass er sich für Verbesserungen einsetzen wolle. Doch auch er sei nur ein einziger Vertreter der Kirche in einem komplexen System.
Kommt hinzu, dass Joseph Bonnemain sich an der Medienkonferenz nicht im Namen der Kirche bei den Betroffenen entschuldigte. Auch Mitgefühl mit den Betroffenen bekundete er höchstens indirekt. Er sprach weiter von Einzelpersonen, die ihre Machtposition missbraucht hätten, obwohl die Vorstudie aufzeigte, dass das gesamte Machtsystem in der katholischen Kirche Missbrauch begünstigt. Vreni Peterer hätte sich von ihm vor allem eines gewünscht: «Dass er endlich hinsteht und sagt: ‹Wir, die katholische Kirche, haben Fehler gemacht.›»
Immerhin: Die von Bonnemain angekündigten Massnahmen geben Peterer «vorsichtig dosierte Hoffnung». Ihre Interessensgemeinschaft hat schon im April 2022 eine unabhängige Meldestelle für Betroffene gefordert. Und Bonnemain verspricht, dass «sofort» eine solche eingerichtet werde.
Peterer hofft nun, dass er damit das umgangssprachliche «Sofort» meint und nicht das kirchliche «Sofort». Denn wie die Vorstudie auch offenlegte, hätte die katholische Kirche in der Schweiz schon spätestens vor zwanzig Jahren mit der Aufarbeitung – etwa in Form von unabhängigen Studien – handeln müssen. «Stattdessen hat man versucht, die Thematik auszusitzen», bilanziert Historikerin Monika Dommann an diesem Tag.