«Von Ausmass überrascht»: SBB-Chef zur Stadler-Absage, Dosto-Debakel – und Bargeld
Haben Sie die heftigen Reaktionen auf den Entscheid, die 116 Doppelstockzüge in Deutschland zu bestellen, überrascht?
Vincent Ducrot: Nein. Wir haben Reaktionen erwartet, allerdings nicht in diesem Ausmass. Das Thema ist emotional. Aber es gibt bei Beschaffungen ein Gesetz, und das wenden wir strikt an. Die Steuerzahlenden sparen so auch Geld, weil der Wettbewerb spielt: Ein funktionierender Markt mit mehreren Offerten führt zu günstigen Anschaffungspreisen und tiefen Unterhaltskosten.
Viel Geld sparen Sie nicht. Der Unterschied der Offerten beträgt gerade einmal 0,6 Prozent – und Stadler würde in der Schweiz produzieren!
Das ist einzig die Differenz bei der Investition, also beim Kauf der Züge. Der grosse Unterschied liegt anderswo: bei Betrieb und Unterhalt. Das macht einen dreistelligen Millionenbetrag aus.
Können Sie konkreter werden? Wie viele Millionen offeriert Siemens günstiger als Stadler?
Das darf ich wegen des laufenden Verfahrens nicht sagen. Nach Abschluss können wir mehr Details geben.
Das Beschaffungsgesetz erlaubt es Ihnen nicht zu berücksichtigen, ob Arbeitsplätze im Inland geschaffen werden und wo Steuern bezahlt werden. Finden Sie das richtig?
Das Gesetz wurde 2019 sogar noch verschärft und der Gedanken des Wettbewerbs erhöht. So sind zum Beispiel Preisverhandlungen nicht mehr zulässig. Die Vergabestelle hat in- und ausländische Anbieter gleich zu behandeln und darf keine diskriminierenden Massnahmen im Verfahren treffen. Arbeitsplätze und Steuern sind keine Kriterien.
Noch einmal: Finden Sie das richtig?
Ich kann die Forderung nachvollziehen, dass die Wertschöpfung in der Schweiz berücksichtigt werden soll, sofern damit ein Wettbewerb möglich ist. Die Diskussion darüber in der Öffentlichkeit ist verständlich.
Wird im heutigen System nicht derjenige Anbieter belohnt, der bei den Kostenschätzungen sehr aggressiv ist? Also sehr, sehr günstig offeriert?
Wir plausibilisieren alle Angaben. Wenn etwas zu aggressiv ist, dürfen wir gemäss Gesetz unsere eigenen Werte einsetzen. Der Grossteil der Kriterien ist exakt messbar und überprüfbar. Unrealistisch tiefe Preise zu offerieren, ist nicht erlaubt und würde sich auch nicht lohnen, denn dann fallen hohe Strafzahlungen an.
Beschaffungen im Ausland führten früher zu Problemen. Der Doppelstöcker FV-Dosto wurde 2010 bei Bombardier Transportation bestellt. Die Auslieferung verzögerte sich massiv, dann mussten die Züge wegen starkem Schütteln nachgerüstet werden…
Dies hat nichts mit Beschaffung im Ausland oder Inland zu tun, sondern mit der Projektführung. Beim FV-Dosto haben die SBB viel zu viele Änderungen erst nach der Bestellung verlangt. Daraus haben wir gelernt und machen dies heute nicht mehr.
Es ist ein Debakel: Die Wankkompensation, deretwegen man die Züge gekauft hat, wird jetzt ausgebaut.
Am Anfang stand eine clevere Idee: Technik statt Beton. Die Wanktechnologie haben wir damals getestet. Trotz intensiver Tests hat uns die Realität eingeholt. Die Züge schütteln und das beheben wir jetzt. Heute können wir das Verhalten der Züge viel präziser simulieren. Wir würden heute anders entscheiden als 2008.
Können Sie versprechen, dass der «Schüttelzug» seinen Namen nicht mehr verdient?
Ja. Der Unterschied beim umgebauten Zug ist deutlich. Wir investieren 90 Millionen Franken in umgebaute Drehgestelle, sparen unter dem Strich aber über die Lebensdauer der Züge 40 Millionen. Denn wir müssen die Wankkompensation nicht mehr warten.
Sie haben nach dem Entscheid für Siemens und gegen Stadler Morddrohungen erhalten. Wie gehen Sie damit um?
Die Bedrohungslage hat sich seit Corona leider verschärft, nach diesem Beschaffungsentscheid zeigte sich das extrem. Aber das betrifft nicht nur mich. Unser Zugpersonal wird heute häufiger körperlich angegangen. Früher waren es Beschimpfungen, heute fliegen schon mal die Fäuste.
Die Schweiz galt als Land, in dem Bundesräte Tram und Zug fahren können. Ist das eine Illusion geworden?
Jedenfalls ist es anders als noch vor zehn Jahren. Als ich in Freiburg arbeitete, sah ich Alain Berset und davor Joseph Deiss immer wieder im Zug. Heute ist das selten geworden. Bundesratsmitglieder und auch ich und andere exponierte Personen brauchen oft Personenschutz.
Würden Kameras für Zugbegleiter helfen, die Sicherheit zu verbessern?
Wir möchten Bodycams einführen. Dafür braucht es aber Bewilligungen und Anpassungen in Verordnungen. Bei der Transportpolizei haben Bodycams die Gewalt reduziert. Das ist das Ziel.
Eine Zugbegleiterin braucht heute viele Talente: Sie muss Kundenberaterin, Psychologin und Polizistin in einem sein.
Der Beruf hat sich stark verändert. Die Anforderungen sind hoch, am Abend ganz besonders. Wir investieren viel in die Ausbildung.
Dabei wollte man diesen Beruf einst komplett abschaffen – wie in den S-Bahnen geschehen.
Die Zeiten haben sich geändert. Wir haben in den S-Bahnen wieder Sicherheitsdienste eingeführt. In den Fernverkehrszügen ist die Abschaffung kein Thema.
Was auffällt: Gewisse Zugbegleiter sind kulant, andere unerbittlich: Schaltet man auf der SBB-App den Easy-Ride-Riegler ein paar Sekunden zu spät ein, wird gebüsst.
Wir haben rund 2500 Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter – sie sind ein Abbild der Gesellschaft. Wir geben ihnen einen gewissen Ermessensspielraum. Einige sind kulanter, andere sicherheitsorientiert. Ich finde, sie machen insgesamt einen sehr guten Job.
Was wünschen Sie sich: Mehr Entgegenkommen oder mehr Gnadenlosigkeit bei der Kontrolle?
Manchmal sind wir zu streng, manchmal kontrollieren wir zu wenig. Beides kommt vor. Mir ist wichtig, dass man sich der Situation anpasst und Kundinnen und Kunden ernst nimmt. In gewissen Situationen kann man ein Auge zudrücken. Wenn jemand ein Problem mit dem Handy hat, muss man ihn nicht büssen.
Im Strassenverkehr sind die Bussen eine wichtige Einnahmequelle. Budgetieren Sie auch Millionen?
Nein. Wir kontrollieren, weil es nötig ist. Die Schwarzfahrquote liegt bei 2,5 bis 3 Prozent – der öffentliche Verkehr verliert deswegen 300 Millionen Franken. Das ist unfair gegenüber der grossen Mehrheit der ehrlichen Kunden.
Mehr Einnahmen wären dringend nötig. Sie brauchen 500 Millionen Franken Gewinn pro Jahr, sonst wächst der Schuldenberg. Schaffen Sie das dieses Jahr?
Aus dem operativen Geschäft noch nicht. Wir haben rund 11 Milliarden Franken Schulden. Wachsende Gewinne erzielen wir vor allem mit Immobilien. Im Fernverkehr sehen wir zwar Potenzial, dürfen aber gemäss Preisüberwacher maximal 100 Millionen Franken Gewinn erzielen. Der Regionalverkehr wird von der öffentlichen Hand bestellt und ergibt keinen Gewinn. Und im Güterverkehr bleiben wir auch dieses Jahr in den roten Zahlen, der Verlust dürfte 100 Millionen Franken ausmachen.
Wann kommen Sie beim Güterverkehr endlich aus der Verlustzone?
Ab 2027 sollte der Güterverkehr mit dem neuen Modell im Einzelwagenladungsverkehr Richtung Null kommen. Dann wird es mittelfristig möglich sein, den angestrebten Gewinn von 500 Millionen Franken zu erzielen.
Braucht es dazu auch höhere Ticketpreise?
Das können wir nicht allein entscheiden, sondern das ganze ÖV-System und die Politik.
Die SBB sind der grösste Akteur. Was wollen Sie?
Wenn die Politik die Abgeltung reduziert, müssen die Nutzer mehr zahlen – das ist eine einfache Logik. Das Generalabo kostet heute 3995 Franken. Über 4000 Franken zu gehen, wäre nicht schön, ist aber vielleicht unvermeidlich. Ich bin kein Fan von Tariferhöhungen, aber es ist nun mal so: Das Gesetz schreibt vor, dass die ÖV-Unternehmen im Regionalverkehr keinen Gewinn, aber auch keinen Verlust machen dürfen. Höhere Kosten wie beispielsweise mehr Angebote oder die Teuerung müssen entweder durch die öffentliche Hand gedeckt werden oder durch die Kundinnen und Kunden.
Die ÖV-Branche will bis 2035 das Bargeld weitgehend verbannen. Was heisst das für die SBB?
Wir verkaufen immer mehr Tickets über das Handy. Automaten werden weniger genutzt, daher reduzieren wir sie. Bargeld werden wir nicht gänzlich abschaffen, aber auch wir testen Reduktionen. Die Automaten bleiben, aber teilweise ohne Bargeldfunktion. Dafür gibt es Prepaid-ÖV-Karten.
Kann man im Fernverkehr noch beim Zugpersonal mit Bargeld zahlen?
Klassenwechsel ab 10 Franken können auch mit Bargeld bezahlt werden. Die allermeisten Reisenden bevorzugen aber Karten oder das Smartphone. Auch viele ältere Personen finden das bequemer. Wichtig: Billette müssen immer vor der Abfahrt gelöst werden.
Zu Corona-Zeiten dachten viele: Die Züge werden nie mehr voll sein, weil sich Homeoffice durchsetzt. Inzwischen messen Sie Rekordzahlen…
Ja, allerdings nicht in allen Regionen. Wir sehen zwei Effekte. Erstens steigt der sogenannte Modalsplit zugunsten des ÖV – seit zwei Jahren. Das heisst: Wir gewinnen gegenüber dem Strassenverkehr an Marktanteilen. Als Gründe sehe ich Klimasensibilität, ein besseres Angebot, gewiss auch Stau auf der Strasse und knappe Parkplätze in den Zentren. Zweitens wächst die Freizeitmobilität stark. Am Wochenende und in den Ferien verzeichnen wir 2025 durchwegs Rekorde.
Das Parlament hat diese Woche die finanzielle Unterstützung des Nachtzuges nach Malmö gestrichen. Ärgert Sie das?
Nein. Nachtzüge sind ein Nischenprodukt. Sie rechnen sich nicht. Wenn die Politik Nachtzüge unterstützen will, dann bieten wir sie an. Wenn nicht – dann nicht. Unser Fokus liegt klar auf den Tagesverbindungen. Dort bewegen wir die grossen Personenmengen.
Wie sieht es mit neuen Tagesverbindungen ins Ausland aus?
Wir arbeiten intensiv daran, Hochgeschwindigkeitsverbindungen nach Barcelona, Rom und London zu ermöglichen. Das wäre für die Schweiz viel interessanter als Nachtzüge. London wird eine besondere Herausforderung. Realistisch ist diese Verbindung Anfang der 2030er Jahre.
Wären Sie angesichts überfüllter Züge froh, die SVP-Initiative der «10-Millionen-Schweiz» wäre angenommen worden?
Ich bin SBB-Chef und setze um, was die Politik entscheidet.
Was sagt der Bürger Vincent Ducrot?
(Lacht) Er schweigt zu dieser Frage.
Der Ausgang der Abstimmung hat beträchtlichen Einfluss auf die SBB.
Ganz klar. Wenn die Bevölkerung wächst, braucht es mehr Infrastruktur. Wir arbeiten mit Szenarien, um die künftige Nachfrage abzuschätzen. Aber egal, welches Szenario sich bewahrheitet: Die Mobilität wird weiter zunehmen.
Wo können Sie noch ausbauen? Gemäss dem Bericht von ETH-Experte Ulrich Weidmann braucht es klare Priorisierungen.
Der Weidmann-Bericht schaut bis ins Jahr 2045. Für die SBB ist es sehr wichtig, ein gutes Angebotskonzept für 2030 und 2035 mit maximalem Kundennutzen zu definieren. Dazu braucht es kleinere Infrastruktur-Ausbauten. Und danach – ja, dann kommen die ganz grossen Projekte, hier wird die Politik priorisieren müssen.
Weidmann rechnete mit zwei Varianten, einmal mit 14 Milliarden, einmal mit 24 Milliarden Franken. Welches ist Ihre Präferenz?
Ich habe keine Präferenz, das ist der Entscheid des Bundesrates und des Parlaments. Ich gehe davon aus: Es wird keine der beiden Varianten genau so realisiert werden.
Weil es noch mehr Geld braucht?
Nein, sicher nicht. Die 24 Milliarden entsprechen der Obergrenze des Bahninfrastrukturfonds (BIF). Dieser Rahmen ist die Limite. Wenn man jetzt bereits alles beschliesst, bleibt 20 Jahre lang kein Spielraum mehr. Das wäre nicht sinnvoll.
Was ist sinnvoll?
Wir wollen die Nachfrage langfristig decken können. Und dafür müssen wir gezielt ausbauen. Nehmen wir das Beispiel der Region Genf oder die Strecke Zürich–Bern. Da werden wir mittelfristig an Grenzen geraten. Die Passagiere haben immer öfter keinen Sitzplatz mehr. Da müssen wir handeln.
Sie könnten Stehplätze einführen – mit einer dritten, günstigeren Ticket-Kategorie!
(Lacht). Nein. Unser Ziel ist, dass man ab einer Fahrt von 20 Minuten sitzen kann. Leider gelingt das nicht immer. Darum fokussieren wir auf die Planung 2030 und 2035. Über den weiteren Ausbau entscheidet die Politik.
Sind Sie 2030 noch im Amt?
Nein, ich bin 63-jährig und auch für mich gilt das Pensionsalter 65.
Sie treffen jetzt Entscheide, die erst wirksam werden, wenn Sie längst im Ruhestand sind. Darum werden SBB-Chefs oft erst im Nachhinein stark kritisiert.
Wir sind in einem extrem langfristigen Geschäft tätig. Wenn ich heute Züge bestelle, werden die vielleicht 2031 in Betrieb sein. Das heisst, dass auch erst zehn Jahre später beurteilt werden kann, ob ein Entscheid richtig war. Ich habe mit Verkehrsminister Albert Rösti schon oft darüber diskutiert, wie man wohl in zehn Jahren über uns beide urteilen wird.
In Deutschland muss sich der ehemalige Deutsche-Bahn-Manager Hartmut Mehdorn zurzeit scharfe Kritik gefallen lassen, weil er zu wenig in die Infrastruktur investiert hat. Dabei ist er bereits seit 2009 nicht mehr im Amt.
Es ist ganz klar, dass die Deutsche Bahn in dieser Ära zu wenig investiert hat. Das rächt sich jetzt. Der grosse Vorteil der Schweiz besteht in der soliden Finanzierung durch einen Fonds. Und im Gesetz steht klar: Der Unterhalt kommt vor dem Ausbau.
Letztes Jahr konnten die SBB eine Pünktlichkeit von 93,2 Prozent vermelden. Das war ein Rekordwert. Wie sieht es 2025 aus?
Die letzten Dezembertage fehlen noch, aber ich bin sehr zufrieden.
Unter Ihrem Vorgänger waren die Werte schlechter und es hiess, das liege an der starken Netzauslastung. Warum klappt es jetzt plötzlich?
Es gibt verschiedene Gründe. Die Zusammenarbeit zwischen Betrieb und Bauen ist viel besser geworden. Wir planen jede Baustelle akribisch, zudem können wir heute auf viel bessere Simulationen zurückgreifen. Und wir haben in der Westschweiz mehr Reserven in den Fahrplan eingebaut. Zudem kümmert sich eine Gruppe nur um die Pünktlichkeit. Und die Pannenanfälligkeit bei den Zügen ist stark gesunken: von einer Störung auf 10’000 Kilometern auf eine Störung alle 16’000 Kilometer. Ich zeige Ihnen etwas (zückt sein iPad).
Was sieht man auf dieser Schweizer Karte?
Sehen Sie die grünen Punkte? Das sind Züge, die jetzt live pünktlich unterwegs sind. Aktuell haben alle unsere Züge im Durchschnitt nur 36 Sekunden Verspätung. Darauf bin ich sehr stolz.
Sie werden für Ihr Handwerk gelobt, aber manche sagen: Ihnen fehlt die grosse Vision für die Zukunft.
Ich bin kein Ankündigungs-CEO. Ein Zug ist ein Zug, und der muss vor allem eines sein: sicher, pünktlich, sauber. Das heisst aber nicht, dass wir keine Vision hätten. Wir haben ein Zielbild Mobilität 2050 skizziert: flexibler, häufiger, schneller. In diesem Sinn entwickeln wir unser System ständig weiter. Das wird von uns erwartet. Dabei bieten Digitalisierung und künstliche Intelligenz enorme Chancen.
Sie haben sieben Kinder. Wie prägt das Ihre Arbeit als SBB-Chef?
Der jüngste Sohn studiert in St. Gallen. Wenn er auf einer der langen Fahrten dorthin einen schmutzigen oder verspäteten Zug antrifft, schickt er mir sofort eine Nachricht (lacht). Meine Familie gibt mir immer direktes Feedback, wenn etwas nicht richtig läuft – und auch wenn es gut läuft (lacht).
Ein Bähnler durch und durch
Vincent Ducrot (63) ist seit 2020 SBB-Chef. Davor war der Elektroingenieur Generaldirektor den Freiburgischen Verkehrsbetrieben und hatte bereits bei den Bundesbahnen Führungspositionen inne, etwa als Leiter Fernverkehr. Ducrot ist Vater von sieben Kindern und lebt im Kanton Freiburg. (mpa/pmü) (aargauerzeitung.ch)
