Interne Dokumente zeigen, wie SBB & Co. ihr Bussen-Regime durchboxten
Es ist ein Betrag, der wehtut. Rund 200 Millionen Franken verlieren die Verkehrsunternehmen jedes Jahr, weil Passagiere tricksen und ohne gültiges Billett unterwegs sind. Die Zahl machte die Branchenorganisation Alliance Swisspass kürzlich publik. Oft handelt es sich um Wiederholungstäter. Fast die Hälfte der registrierten Betrüger wurden innerhalb von 24 Monaten mindestens drei Mal erwischt.
Die finanziellen Ausfälle treffen die Branche empfindlich. Umso irritierter waren deshalb SBB & Co., als der Bund Ende 2023 eine Lockerung des Kontrollregimes forderte. Dabei ging es vor allem um die elektronischen Tickets. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) war der Ansicht, dass Passagiere auch nach Abfahrt eines Zuges ihr Billett elektronisch lösen dürfen. Bisher kannte die Branche hier kein Pardon: Der Ticketkauf musste vor Abfahrt abgeschlossen sein. Bereits wer ein paar Sekunden zu spät dran war, riskierte eine Busse von mindestens 70 Franken.
Um die Wogen zu glätten, setzten Bund und Branche eine Arbeitsgruppe ein. Diese sollte eine «Chropfleerete» und einen Kompromiss ermöglichen. Gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip hat CH Media Einsicht in die Sitzungsprotokolle verlangt. Sie ermöglichen einen Blick hinter die Kulissen des Tarifstreits, der in der Branche über Monate hinweg für Aufruhr sorgte.
Vorgehen des Bundes wurde nicht goutiert
Wie gross der Frust damals in der ÖV-Welt war, zeigt ein erster Austausch am 17. Januar. Der Branchenvertreter an der Sitzung zeigte sich «enttäuscht» darüber, dass das BAV seine Rüge öffentlich platziert hatte. «Das ist nicht der Stil, wie die Zusammenarbeit bisher funktionierte.»
Die Rede war auch von «bleibenden Schäden» bei der Zusammenarbeit und einer stattlichen Zahl an Rückerstattungsforderungen, die bereits eingegangen seien, «auch von Anwaltskanzleien». Dass Passagiere ihre Bussen zurückfordern, sorgte in der Branche für Unruhe. Sie befürchtete wohl, dass die losgetretene Debatte weitere Passagiere zu solchen Klagen animierten könnte.
Der Vertreter von Bernmobil betonte, wie wichtig strenge Kontrollen seien. Denn gerade Jugendliche warteten mit dem Ticketkauf oft zu, bis ein Kontrolleur einsteige. Taucht ein solcher auf, lösen die Passagiere noch rasch ein Ticket - ansonsten wird gratis gefahren. Der Exponent des Zürcher Verkehrsverbunds ZVV erklärte, dass solche Formen des Missbrauchs zunähmen.
Das BAV sah dies anders. Eine Busse kann laut Gesetz nur ausgestellt werden, wenn ein Einnahmeausfall zu vermuten ist. Bei einem Passagier, der sich in bester Absicht ein Billett kaufen will, dieses aber zu spät löst – etwa wegen schlechter Internetverbindung –, ist diese Voraussetzung für eine Strafe laut BAV nicht erfüllt.
Bei dieser juristischen Frage fanden Bund und ÖV-Branche keine gemeinsame Basis, wie die Protokolle der eingesetzten Arbeitsgruppe zeigen. Diese trat nach der ersten «Chropfleerete» im Januar mehrmals zusammen. An den Sitzungen setzten sich SBB & Co. mit ihrer Auslegung durch und sorgten dafür, dass die bisherige Regelung unangetastet blieb. In den Tarifbestimmungen heisst es deshalb weiterhin: Kundinnen und Kunden müssen vor der tatsächlichen Abfahrt in Besitz eines gültigen Tickets sein.
ÖV-Branche setzte sich durch
Gleichzeitig erarbeitete die Arbeitsgruppe Massnahmen, um die Zahl der Bussen zu reduzieren und dem Bund entgegenzukommen. Es soll künftig weniger «Zuschlagsforderungen» geben, die von der Kundschaft nicht verstanden werden. Das soll die Kundenzufriedenheit erhöhen. Konkret schlug die Arbeitsgruppe am 11. April dem BAV unter anderem folgende Massnahmen vor:
- Eine Informationskampagne soll für die bestehende Regel sensibilisieren. Die Branchenorganisation Alliance Swisspass wirft dafür 20'000 Franken auf.
- Die Branche tauscht sich regelmässig über den Umgang mit zu spät gelösten E-Tickets aus.
- Die Branche setzt technische Verbesserungen um. So soll etwa die SBB-App die Möglichkeit bieten, dass ein E-Ticket sofort ab Kauf gültig ist – und nicht erst mit der Abfahrtszeit der ausgewählten Verbindung. Die Branche rechnete hier mit der Umsetzung im nächsten Jahr. Das war für das BAV zu langsam. Es drängte hier auf eine Lösung bis Ende Jahr.
Die vorgesehenen Massnahmen spiegelten den «kleinste gemeinsame Nenner», hielt das BAV reichlich zerknirscht fest. Das Amt hatte sich offenbar mehr von seiner Intervention erhofft. Dies schimmert in den einsehbaren Dokumenten durch. So hält das BAV in den Erläuterungen zum Massnahmenpaket fest: «Die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe gestaltete sich für das BAV teilweise schwierig.» Immerhin: Zeigen die Massnahmen keine Wirkung, muss die Branche weitere Schritte prüfen. Ende Jahr wird eine Erfolgskontrolle durchgeführt.
Der Blick hinter die Kulissen zeigt, wie die Verkehrsunternehmen den Angriff auf ihr strenges Kontrollregime abwehrten. Dennoch bleibt es in ihrem Interesse, bei den Ticketkontrollen Kulanz walten zu lassen, insbesondere bei den elektronischen Billetten. Schliesslich ist es das erklärte Ziel der Branche, bald nur noch auf diesen Vertriebskanal zu setzen. Das klappt nur, wenn die Passagiere die Tarifregeln nachvollziehen können und das Kontrollsystem akzeptieren. (aargauerzeitung.ch)
- Greenpeace fordert mehr Fernzüge ab Zürich und Genf
- Bei der SBB haben Billettautomaten und mobiler Billettverkauf gestreikt
- Auto, Zug oder Flugzeug? So kommst du jetzt noch am besten in den Süden
- SBB erhöhen Preise in den Speisewagen – ein Espresso kostet jetzt mehr als 5 Franken
- Längere Reisezeiten wegen Bahn-Ausbau: Nationalrätin fordert Transparenz vom Bund
