Kürzlich war ich in Genf. Ich traf mich zum Interview mit der Journalistin und Buchautorin Joëlle Kuntz. Es war ein anregendes und geistreiches Gespräch mit einem scharfsinnigen Menschen. Und irgendwie ein deprimierendes. Es führte mir vor Augen, wie unterschiedlich die Befindlichkeiten in den Landesteilen der Schweiz sind. Und wie wenig wir voneinander wissen. Wir leben nicht miteinander, sondern aneinander vorbei.
Denn wer in der Deutschschweiz kennt Joëlle Kuntz? In Frankreich wurde sie mit einem Orden ausgezeichnet, diesseits der Saane/Sarine ist sie der breiten Öffentlichkeit kein Begriff. Immerhin, ihre Bücher wurden und werden auch auf Deutsch übersetzt. «Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit» ist ihr neustes Werk, es handelt von den Mythen Unabhängigkeit und Neutralität.
In der Westschweiz beurteilt man diese ziemlich nüchtern. Die Romands befinden sich in einer doppelten Minderheitenrolle, gegenüber der Deutschschweiz wie auch Frankreich. Sie wissen, was Abhängigkeit ist. Und erfahren es immer wieder auf schmerzhafte Weise, etwa wenn sie von der Suisse alémanique überstimmt werden. Wie am 9. Februar 2014 bei der SVP-Masseneinwanderungs-Initiative. «Wir wissen nicht, wem wir uns zugehörig fühlen. Wir sind unglückliche Schweizer und unglückliche Europäer», sagte Joëlle Kuntz im Interview.
Solche Befindlichkeiten kümmern uns Deutschschweizer nicht, wir ignorieren sie geflissentlich. Oder kommentieren sie mit arroganter Herablassung, wie Christoph Blocher nach besagtem 9. Februar: «Die Welschen hatten immer ein schwächeres Bewusstsein für die Schweiz», sagte der SVP-Übervater in einem Interview mit der «Basler Zeitung». «Blochers Aussage hat das Gefühl verstärkt, dass die dominierende Partei in der Deutschschweiz die Existenz der Westschweizer Kultur nicht anerkennt», meint Joëlle Kuntz dazu.
Die Schweizerische Volkspartei, die dominierende politische Kraft der letzten 25 Jahre, hat Unabhängigkeit und Neutralität in den Status eines Dogmas erhoben. Wer daran zu rütteln wagt, gerät in den Verdacht des Landesverrats. Oder eines schwächeren Bewusstseins für die Schweiz. Die SVP aber lebt vom Kampf für die «unabhängige» Schweiz und gegen die EU und «fremde Richter». Als Selbstbestimmungs-Initiative bezeichnet sie ihr diese Woche lanciertes Volksbegehren, das den Vorrang des nationalen Rechts festschreiben will.
«Ein Staat, der sein Recht nicht mehr selber bestimmt, hört auf, ein Staat zu sein», sagte der Zürcher SVP-Kantonsrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt, der die Initiative massgeblich erarbeitet hat. Dabei weiss die SVP genau, dass das internationale Recht zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es ist eine logische Entwicklung: Die Globalisierung der Wirtschaft muss zwangsläufig dazu führen, dass auch die Rechtsprechung vermehrt nach globalen Regeln erfolgt.
Die Schweiz ist wie kaum ein anderes Land in die globalisierte Wirtschaft eingebunden. Dies hat massgeblich zu unserem Wohlstand beigetragen. «Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass die Schweiz den Entwicklungen der Weltwirtschaft und der Finanzmärkte stark ausgesetzt ist», sagte Nationalbank-Präsident Thomas Jordan kürzlich in einem Vortrag in Brüssel. Deshalb ist sie «besonders darauf angewiesen, dass internationale Abmachungen eingehalten werden», hielten die Präsidenten von SP, FDP, CVP, BDP, GLP, EVP und Grünen in einer Mitteilung zur SVP-Initiative fest.
Internationales Recht ist im Interesse der Schweiz, das neue Begehren der SVP steht quer in der Landschaft.
Dennoch hat sich in weiten Kreisen der Deutschschweiz die Überzeugung festgesetzt, dass die Schweiz unabhängig und neutral bleiben muss. Ja kein Beitritt zur EU, ja keine Anbindung des Franken an den Euro, ja keine «fremden Richter». Man findet dieses Denken nicht nur bei notorischen SVP-Anhängern, sondern auch bei Leuten, die es besser wissen sollten.
Hier liegt der vielleicht grösste Erfolg der SVP. Sie brachte Medien, Linke und «Nette» dazu, sich über ihre stilistischen Grobheiten zu echauffieren. Und konnte auf diese Weise ihre Dogmen in unsere Köpfe einpflanzen. So dass heute ein grosser Teil der Deutschschweizer überzeugt ist, dass die Schweiz nur für sich allein bestehen kann und sich vom Ausland abgrenzen muss.
Wie bekommen wir die SVP wieder aus unseren Köpfen heraus?
Einfach wird dies nicht. Die Schweiz hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten mehrfach auf die harte Tour lernen müssen, dass sie vom Ausland abhängig ist und nicht umgekehrt. Man denke an die Kontroverse um die Konten von Holocaust-Opfern oder den Untergang des Bankgeheimnisses. Bei den bilateralen Verträgen bahnt sich eine ähnliche Entwicklung an. Die Schweiz kann sie wohl nur retten, wenn sie sich mit einem Rahmenvertrag an die EU anbindet. Oder sie wählt den Alleingang.
Bewirkt hat dies wenig. «Es braucht vermutlich 30 solche Erfahrungen, bis wir etwas lernen. Eine oder zwei genügen nicht», sagte Joëlle Kuntz in unserem Gespräch. Potenzial dafür gibt es, etwa den Rohstoffhandel, dessen Risiken für die Schweiz selbst der Bundesrat nicht bestreiten kann. Oder eine mögliche Umgehung der Russland-Sanktionen über unser Land. Oder wenn die Wirtschaft schleichend den Euro als Zahlungsmittel einführt, weil mit dem Spekulations-Franken keine Buchhaltung mehr zu machen ist.
Braucht es das, damit wir uns auf «die Kunst der Abhängigkeit» besinnen? Oder «le génie de la dépendance», wie es im französischen Original weitaus eleganter heisst. Es bringt jedenfalls nichts, wenn wir uns ins Schneckenhaus verkriechen. «Verhandlungen sind die Voraussetzung für eine gewisse Unabhängigkeit», meint Kuntz. Vielleicht sollten wir öfter auf unsere Landsleute im Westen hören.
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Ich würde mir auch wünschen weniger SVP oder Putin Artikel zu lesen.
Dann sollten diese Herren (und Damen) aber bitte aufhören nur negative Schlagzeilen zu produzieren. Das wäre im Interesse aller.
Nur sieht es leider nicht so aus, als könnten sie sich vorstellen, dass es noch andere Menschen auf dem Planeten gibt mit denen sie zusammenleben müssen.