Von einer geplatzten «Bombe» war nach den Präsidentschaftswahlen in den USA die Rede: Gemeint war ein Verfahren, mit dem die britische Firma Cambridge Analytica Donald Trump zum Einzug ins Weisse Haus verholfen haben soll. Wie das «Magazin» in einem aufsehenerregenden Artikel schrieb, wertete das Unternehmen das Verhalten der amerikanischen Facebook-Nutzer minutiös aus und deckte sie anschliessend mit massgeschneiderten Botschaften ein.
Um Afroamerikaner vom Wählen abzuhalten, sollen ihnen etwa Videos zugespielt worden sein, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als Raubtiere bezeichnet. Insgesamt seien 175’000 Variationen von Trumps Argumentarium in Umlauf gebracht worden, hiess es im Bericht. Ob und wie dies den Wahlausgang beeinflusst hat – darüber wurde wochenlang kontrovers diskutiert. Das Thema Big Data ist seither aus Debatten über Politmarketing kaum mehr wegzudenken.
Auch die Schweizer Parteien setzen in ihren Wahl- und Abstimmungskämpfen immer stärker auf die Macht von Social Media. Wie der Kampagnenspezialist Daniel Graf in seinem Blog schreibt, rückt dabei insbesondere ein Instrument in den Fokus: Datenbanken. So nutze die FDP in ihrer Kampagne gegen die Rentenreform ein «US-Supertool» namens Nationbuilder.
Solche Tools ermöglichten es, digitale «Fichen» über Wähler anzulegen, führt Graf im Gespräch mit watson aus. Dadurch könnten die Personen vor Urnengängen schnell und effizient kontaktiert werden – mit passenden Werbebotschaften, Abstimmungserinnerungen oder Spendenaufforderungen. «Abstimmungen gewinnt man heute nicht mit Online-Werbung, sondern mit Datenbanken», so der Campaigner. Allerdings bergen die immer raffinierteren Tools seiner Einschätzung nach datenschutzrechtliche Probleme.
Konkret verfügt Nationbuilder über die Funktion «Social Match»: Die Angabe einer E-Mail-Adresse reiche dem Programm, um sämtliche Social-Media-Konten abzugrasen, die auf diese Adresse registriert sind, erklärt Graf. Gibt ein Wähler also seine Mailadresse preis, kann die FDP damit auch auf Informationen zugreifen, die auf dessen Facebook-, Twitter- und Linkedin-Konten verfügbar sind. Eigentliche Kurzbiografien werden erstellt, ohne dass der User dem zustimmt. «Besonders stossend ist das, wenn jemand auf Facebook absichtlich nicht mit seinem richtigen Namen auftritt und über die E-Mail-Adresse trotzdem ausfindig gemacht wird», findet Graf.
In Frankreich haben die Behörden während des vergangenen Präsidentschafts-Wahlkampfs reagiert: Das «Crawlen» nach Daten in sozialen Netzwerken sei verboten, teilte die nationale Datenschutzbehörde CNIL den Parteien und Kandidaten im November mit. Die Firma Nationbuilder lenkte ein und deaktivierte die «Social Match»-Funktion für Frankreich.
Auch in der Schweiz beobachtet der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte die Entwicklung aufmerksam, wie sein Sprecher Francis Meier zu watson sagt. Man behalte sich vor, die involvierten Akteure auf die Rechtslage hinzuweisen: «Wer Daten aus sozialen Netzwerken erfasst und zu einem bestimmten Zweck verwendet, muss die betroffenen Personen darüber informieren. Auch darf er sie nicht gegen ihren Willen bearbeiten» so Meier. «Es wäre problematisch, wenn eine Applikation solche Angaben erfasste, ohne dass dies für die betroffenen Social-Media-Nutzer erkennbar ist.»
FDP-Kampagnenleiter Matthias Leitner betont: «Wir haben zusammen mit einer Datenschutz-Spezialistin umfassende Abklärungen vorgenommen, bevor wir Nationbuilder aufgesetzt haben.» Die «Social Match»-Funktion werde derzeit nicht aktiv genutzt. «Wir brauchen das Programm vor allem, um unkompliziert Websites zu erstellen und per Mail mit Personen in Kontakt zu treten, die sich für unsere Kampagne gegen die Rentenreform interessieren.»
Eine künftige Nutzung der «Social Match»-Funktion schliesst Leitner jedoch nicht aus. «Solange verantwortungsvoll damit umgegangen wird und alle Datenschutzbestimmungen eingehalten werden, sehe ich kein Problem.» Wer bei Facebook oder Twitter registriert sei, habe einer Verwendung dieser Daten zugestimmt. «Man muss das Problem bei der Ursache angehen: und die liegt bei Facebook.» Dort könne jeder Nutzer seine Privatsphären-Einstellungen so konfigurieren, dass sie für ihn richtig sind.
Die von Daniel Graf angestossene Debatte verursache «viel Lärm um nichts» – insbesondere, weil die FDP nicht die erste Partei sei, die Nationbuilder benutze, so Leitner. Tatsächlich haben auch die Grünen – bei denen Graf Mitglied ist –, bereits mit dem US-Tool experimentiert.
Grünen-Generalsekretärin Regula Tschanz betont auf Anfrage, man habe Nationbuilder lediglich testweise eingesetzt, im Zuge der Kampagne zur Initiative «Grüne Wirtschaft». «Wir haben die Social-Match-Funktion jedoch bewusst nicht genutzt.» Das Tool habe aus Sicht der Partei zudem keinen Mehrwert gebracht, weshalb es seither nicht mehr verwendet werde.
Als Partei, die sich traditionell für den Schutz der Privatsphäre einsetze, begrüsse man es, wenn nun eine politische und gesellschaftliche Debatte über diese neuen Kampagnen-Möglichkeiten geführt werde. «Es ist wichtig, dass mit Blick auf einen starken Datenschutz Klarheit geschaffen wird, was erlaubt ist und was nicht.»
Auch die SVP gibt auf Anfrage an, als Bestandteil eines «modernen Marketings» verschiedene Datenbanken zu nutzen und «deren Einsatz künftig noch verstärken» zu wollen. Ob Nationbuilder darunter ist, verrät Generalsekretärin Silvia Bär aber nicht. CVP und SP benutzen derzeit nach eigenen Angaben keine Datenbank mit «Social Match»-Funktion.