Er schweigt. Obwohl ihn Informationschef Matthias Ebener angekündigt hat. Und obwohl die Bundesräte Albert Rösti und Martin Pfister gespannt zu ihm hinüberschauen. 34 Sekunden lang – eine Ewigkeit an einer Medienkonferenz.
Dann spricht Matthias Bellwald, Gemeindepräsident von Blatten – und zwar im Walliser Dialekt – zur Bevölkerung von Blatten. Er sagt Sätze wie: «Wir haben das Dorf verloren, nicht aber das Herz.» Und: «Umarmt einander, stützt einander, helft einander, tröstet einander.» Und: «Wir alle machen zusammen das Menschenmögliche, dass wir das Dorf wieder aufbauen können und Blatten eine Zukunft hat.» Und: «Wir sind ganz nahe bei euch.»
Es sind Worte des Zuspruchs, die den Schmerz treffend ausdrücken, den die 300 Personen, die Blatten eilends hatten verlassen müssen und es am Mittwochnachmittag unter riesigen Schuttbergen versinken sehen, fühlen.
Bellwald, der ehemalige Oberst im Generalstab, Berufsinstruktor und seit 1. Januar 2025 Gemeindepräsident von Blatten, umschreibt mit seinen Worten eine Katastrophe, die einmalig ist in der neueren Geschichte der Schweiz. Er erhält viel Lob für sein Auftreten und dafür, wie er mit Blattens Gemeinderat den regionalen Führungsstab Lötschental führt.
Nur dreieinhalb Stunden nach der Katastrophe sei es «sehr schwer», eine Medienkonferenz zu organisieren, sagt Ständerat Beat Rieder. «Man muss sehen, dass sie in einem sehr hektischen Moment und in einer aufgewühlten Stimmung stattfand.» Rieder selbst wohnt in Wiler, dem Dorf direkt vor Blatten. Er verfolgt die Geschehnisse eng.
Rieder hat nur Lob für Blattens Gemeindepräsidenten. «Er geht sehr routiniert und sehr strukturiert vor», sagt er. «Es ist ein grosser Erfolg, dass alle Personen – unter Umständen mit einer Ausnahme – rechtzeitig evakuiert werden konnten.»
Auch Politikwissenschaftler Michael Hermann hat den Auftritt Bellwalds mitverfolgt. Für den Gemeindepräsidenten sei sein Dorf gestorben, sagt Hermann. «Es verbinden ihn tausend Geschichten mit diesem Ort. Deshalb ist er sehr glaubwürdig.»
Irgendwie sei das «gar nicht nur ein Worst Case, sondern auch ein Best Case», urteilt Hermann. «Es war grossartig, wie gut die Evakuierung funktioniert hat. Man stelle sich bloss vor: Ohne Vorwarnung wären jetzt vielleicht 300 Menschen ausgelöscht worden.» Dennoch habe die Katastrophe symbolisch und emotional eine historische Note: «Wir haben es noch nie erlebt, dass ein ganzes Dorf unter einem Berg begraben wird.»
Die Katastrophe im Lötschental habe ganz andere Dimensionen als eine Überschwemmung. «Hier lassen sich die Häuser nicht wieder aufbauen», sagt Hermann. «Die Einwohner müssen über Jahre hinweg irgendwo ausharren, und es wird nicht einfach sein, in einem neuen Blatten neben dem Schuttkegel wieder eine Gemeinschaft entstehen zu lassen. Für die moderne Schweiz ist das eine völlig neue Erfahrung.»
Bellwald hat diese Dimension mit seinen Worten erfasst. Im Gegensatz zu den Bundesräten Albert Rösti und Martin Pfister. Ihre Aussagen an der Medienkonferenz bleiben seltsam blutleer.
Zehn Minuten lang läuft der Livestream von Keystone-SDA an jenem Mittwoch schon, bis Bellwald das Wort ergreift. Pfister und Rösti treffen nach eineinhalb Minuten ein, suchen sich ihren Platz, machen sich Notizen, nehmen einen Schluck Wasser. Pfister schaut seine zwei Handys an, Rösti unterstreicht wichtige Sätze in der Rede. Die Bundesräte tun sich sichtlich schwer damit, zehn Minuten einfach stillzusitzen – im Gegensatz zu den anderen Teilnehmenden.
Pfister und Rösti sprechen miteinander, gestikulieren. Pfister lacht, dann lacht auch Rösti. Später nestelt Pfister an seiner Jacke, die er sich über den Blazer angezogen hat, beugt sich zu Rösti hin. Auch dieser nestelt an seiner Jacke. Beide lachen. Es ist fast ein «Laschet-Moment»: 2021 hatte der deutsche CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet Flutgebiete besucht und gelacht, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über die Opfer sprach. Laschets Lachen war die Wende im deutschen Wahlkampf.
Dann sagt Rösti: «Die Natur ist stärker als der Mensch. Das wissen die Bergler. Und sie leben mit dem Risiko.» Und weiter: «Heute haben wir aber ein ausserordentliches Ereignis erlebt, das die schlimmstmögliche Ausprägung erhalten hat.» Und: «Das Ereignis macht uns fassungslos und schockiert.» Und auf Französisch hält er fest: «Wir sind traurig und nahe bei den Betroffenen.»
Pfister drückt sein «herzliches Mitgefühl aus». Er sagt weiter: «Ich bin tief betroffen über das Ausmass dieser Katastrophe und wünsche möglichst viel Trost und Zuversicht in diesen schweren Tagen.» Er sichert Blatten und dem Lötschental die Hilfe des Bundes zu, wie Rösti auch. Pfister betont: «Es ist ganz wichtig, heute zusammenzustehen.»
Michael Hermann ist nicht überzeugt vom Auftritt der beiden Bundesräte. «Er zeigt: Sie waren nicht ganz auf der Höhe des Moments, wirkten fast etwas verloren», sagt er. «Sie waren noch nicht richtig angekommen, hatten das Besondere an der Katastrophe nicht erfasst. Deshalb wirkten ihre Worte blass und aufgesetzt. Generisch fast – man hätte sie ‹copy and paste› fast für jedes Unglück verwenden können.»
Es habe «etwas Charmantes», dass der Gemeindepräsident die beiden Bundesräte «ausgestochen» habe, sagt Hermann. Es sei zwar logisch, dass dieser die Katastrophe stärker empfinde als sie. «Nur: Er muss in all den Emotionen auch noch die richtigen Worte finden. Das gelang ihm wie einem Profi.»
Ständerat Rieder spricht Pfister und Rösti allerdings ein grosses Lob aus. «Chapeau, dass sie so schnell vor Ort waren», betont er. «Dieses Zeichen war enorm wichtig für die Bevölkerung von Blatten.»
Der Führungsstab des Lötschentals habe Rösti und Pfister jeweils «zeitnah» über die Situation in Blatten informiert, sagt Rieder. Am Mittwochnachmittag war es dann Rieder persönlich, der den beiden Bundesräten sagte: «Wir haben jetzt ein aussergewöhnliches Jahrhundertereignis.»
Für Rösti war die Situation nicht einfach. Von 14 bis 14.30 Uhr war er in Bern an einer Medienkonferenz – und um 15.30 Uhr erfuhr er von der Katastrophe. Danach musste er schnell reagieren.
Anders als Rösti und Pfister schaffte es Adolf Ogi 2000, als Bundespräsident bei der Unwetterkatastrophe in Gondo mit einem einzigen Satz eine Wendung zu prägen: «Der Berg hat seinen Halt verloren.»
Ogi ist Ehrenbürger der Lötschentaler Gemeinden Ferden, Kippel, Wiler und Blatten. Noch vor drei Wochen hatte er 30 Kinder aus dem Lötschental an den Grand Prix Bern eingeladen. Einige der Eltern dieser Kinder hätten inzwischen wohl ihr Haus verloren, sinniert er. «Ich bin zerstört, leidend, traurig.» Mehr will er nicht sagen.
Am Freitag wird Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter das Lötschental besuchen, die Bundespräsidentin 2025. Sie weilte während der Katastrophe für hochrangige Treffen in Irland. Auf X hatte sie am Mittwoch geschrieben: «Es ist schlimm, wenn man seine Heimat verliert.»
Vielleicht gelingt ihr ja in Ferden ein Satz, der das Unfassbare fassbar macht. (aargauerzeitung.ch)