Als sie das Lied anstimmen will, schnürt es ihr die Kehle zu. Die Frau, die im Kirchenchor von Kippel singt, bringt keinen Ton hervor. Sie ist nicht die Einzige, die sprachlos ist an diesem Auffahrtsdonnerstag. Es ist halb elf Uhr vormittags, draussen scheint die Sonne, in der klaren Morgenluft zwitschern die Vögel. Über dem Tal glänzt das Bietschhorn – schneebedeckt und majestätisch wie immer.
Sieht ein Tag nach einer Katastrophe wirklich so aus? Ein Tag, der sich wie ein Trauma in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Talgemeinschaft eingraben wird?
Das 1500 Meter hoch gelegene Blatten im Lötschental existiert nicht mehr. Am Vortag hat eine gewaltige Masse aus Eis, Fels und Schlamm den Ort verschüttet. Die letzten Häuser, die zunächst verschont geblieben waren, wurden mittlerweile vom Wasser verschluckt. Ein durch die aufgestaute Lonza entstandener See oberhalb des Schuttkegels hat das Dorf endgültig geflutet. Die rund 300 Bewohnerinnen und Bewohner konnten rechtzeitig evakuiert werden. Nur ein Mann, 64 Jahre alt, wird noch vermisst. Er wollte – so erzählt man es sich im Tal – nochmals nach seinen Schafen schauen.
Bis Wiler, das nächste Dorf talabwärts von Blatten, ist die Strasse noch passierbar. Dort versammeln sich überall kleine Gruppen von Menschen: ältere Männer und Frauen, die miteinander sprechen, die Köpfe schütteln, in den Himmel schauen. Die Naturkatastrophe ist ihr einziges Thema. «Dass es so schlimm kommen würde – das hätte ich nie gedacht», sagt ein älterer Herr leise, ungläubig. Am Ortsausgang von Wiler – dort, wo kein Weiterkommen mehr ist – stehen vier Traktoren mit Viehtransportanhängern. Kühe werden in Sicherheit gebracht.
Denn es ist noch nicht vorbei. Noch immer fallen Felsbrocken vom Kleinen Nesthorn, der Kanton geht davon aus, dass noch mehrere hunderttausend Kubikmeter instabil sind. Auf beiden Talseiten bestehe zudem die Gefahr von Murgängen. Auch der gigantische Schuttkegel aus Felsen, Eis und Wasser sei wenig stabil.
Ausserdem wächst der See. Am Nachmittag hat er ein Volumen von drei Millionen Kubikmetern und steigt weiter. «Es ist eine furchtbare Katastrophe», sagt eine Frau aus dem benachbarten Kippel. Auch in ihrem Dorf wurden Gebäude vorsorglich evakuiert. Denn es besteht das Risiko, dass sich der See Bahn bricht und dabei das Gelände entlang der Lonza mitreisst.
Die Frau, die wie alle nicht mit Namen und Bild in den Medien erscheinen will, schüttelt den Kopf und winkt ab. Nein, so schlimm werde es bestimmt nicht kommen. Doch dann sagt sie beinahe entschuldigend: Ihren Rucksack mit dem Nötigsten habe sie gepackt.
Und genau das tun die Behörden. «Wir gehen davon aus, dass der gestaute See in den frühen Morgenstunden des Freitags zum Überlaufen kommt», sagt Matthias Ebener vom Regionalen Führungsstab am Abend an der mittlerweile achten Medienkonferenz. Man versuche mit einer Drucksonde zu überprüfen, wie sich der See entwickle. Man rechne damit, dass die Masse allmählich und einigermassen kontrollierbar abfliesse, prüfe aber auch die Möglichkeit einer Seeentleerung. Die Armee hat dafür Hochleistungspumpen, Bagger, Flutlichtanlagen und weiteres Material ins Lötschental gebracht.
Nur: Weil die ganze Region um den Bergsturz noch sehr instabil ist, soll niemand den Gefahrenperimeter betreten. Immerhin – als letztes Bollwerk gegen die Wassermassen – wurde die Speicherkapazität des weiter talwärts gelegenen Stauwerks bei Ferden erhöht. Es sollte dem Wasser standhalten, so denken die Experten. Hoffen sie.
Doch die Unsicherheit bleibt. «Wir wissen seit gestern, dass das Nichtwahrscheinliche wahrscheinlich werden kann», bringt Staatsrat Stéphane Ganzer die Stimmung auf den Punkt.
Die Frau, die ihren Rucksack schon gepackt hat, erzählt, wie nah das Ereignis der ganzen Bevölkerung gehe. Denn alle hätten Verwandte oder Bekannte in Blatten – auch sie: eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die auf der Schattenseite des Dorfes gelebt hätten. Diese Seite gehörte zum neuen Teil von Blatten. In den letzten Jahren seien dort viele neue Häuser entstanden, viele junge Familien hätten sich dort ein Leben aufgebaut. Ein Leben, das nun von der Katastrophe begraben worden sei. Ob die Familien je zurückkehren werden?
Von der Politik jedenfalls wird versprochen, dass die Menschen aus Blatten nicht alleingelassen werden. Der Ort mit seinen teilweise über 500 Jahre alten Häusern soll wieder aufgebaut werden. Man verbreitet Zuversicht. Valentin Werlen, Gemeindepräsident von Ferden, schwört den Blattner Nachbarn vor nationalen und internationalen Kameras:
Auch der Walliser Regierungspräsident Mathias Reynard und Staatsrat Christophe Darbellay sind am Tag nach der Katastrophe ins Lötschental gekommen. Er sei sprachlos, es sei unfassbar, sagt der ehemalige CVP-Präsident. Und doch versichert auch er: «Es gibt eine Zukunft.» Die Seitentäler müssten weiter belebt werden. Das sei Heimat, das sei DNA. Doch er sagt auch: Ob die Blattnerinnen und Blattner wieder genau am selben Ort wohnen könnten, das könne niemand sagen. «So ehrlich muss man sein.»
«Ich kann mir vorstellen, dass junge Leute zurückkommen, wenn das Dorf in einigen Jahren wieder steht», sagt ein Mann um die 40. Aber ältere? Wer 80 ist, ziehe nicht jetzt weg und mit 85 noch einmal zurück. Er selbst sei in Blatten aufgewachsen, lebe heute anderswo. Im Winter komme er immer zurück, zuletzt war er im März drei Wochen lang zum Langlaufen und Skifahren mit seiner Frau und dem kleinen Sohn im Elternhaus. Auch das gibt es nicht mehr. Die Erinnerungen an seine Kindheit liegen unter bis zu 200 Meter hohen Geröllmassen begraben. Immer wenn er wiederkam, habe er sich auf den Dorfplatz gestellt und hinauf zum Bietschhorn geschaut.
Es sind schmerzliche Gedanken. Manche Einheimische blenden sie aus. Einige wollen die Zerstörung gar nicht sehen – andere zieht es hin, etwa auf die Weritzalp, von wo aus man den Schuttkegel überblicken kann. Sprechen wollen die wenigsten. Die Menschen aus Blatten werden gut abgeschirmt, erzählt eine Frau, die vor Jahren dort gelebt hat und die auch Blattner kennt, die am Mittwochnachmittag um 15.30 Uhr ihr Haus verloren haben. Wer sich doch äussert, reagiert abweisend – was niemanden wundert. Wie soll man erklären, wie es ist, plötzlich alles zu verlieren? Und nicht zu wissen, wohin morgen, übermorgen, geschweige denn in den nächsten Wochen?
Am Abend findet in der Mehrzweckhalle von Wiler eine Informationsveranstaltung für die Evakuierten statt. Aussenstehende und damit auch Medien sind nicht willkommen. Es soll ein «Safe Space» für die Betroffenen sein. Ein Raum für Trauer, für Wut. Der Ort Blatten wurde 1433 erstmals schriftlich erwähnt, heute ist er Geschichte – und für die Blattnerinnen und Blattner stellt sich die Frage: Was bedeutet Heimat noch, wenn es sie nicht mehr gibt? (aargauerzeitung.ch)
Bei aller Tragik gehört das festgehalten.