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Gletschersturz in Blatten VS: Das Protokoll des Unglücks im Wallis

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Gletscherabbruch in Blatten VS

Der Fluss Lonza ist vom Geröll vollständig aufgefüllt worden. Das Wasser staut sich nun in einem entstandenen See auf.

quelle: keystone / jean-christophe bott
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Gegen 15.30 Uhr geschieht das Unfassbare: Das Protokoll des Unglücks

Es ist eine der grössten Naturkatastrophen der Schweiz: Am Mittwoch brach nach einem Felssturz der Birchgletscher im Lötschental und begrub das – evakuierte – Dorf Blatten unter sich. Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Wie sich das grosse Unglück anbahnte.
29.05.2025, 14:4329.05.2025, 15:23
Sermîn Faki / ch media
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Freitag, 16. Mai 2025

«Grösserer Fels- und Gletscherabbruch im Lötschental» vermeldet der «Walliser Bote». In den Tagen zuvor seien in der Region Kleines Nesthorn/Birchgletscher Bodenbewegungen festgestellt worden. Anwohner berichten, dass ein grösserer Brocken abgebrochen sei, der nahezu bis in den Talgrund vorgedrungen sei. Wegen der bevorstehenden Schneeschmelze sind weitere Gletscher- und Felsabbrüche nicht auszuschliessen. Die Gemeinde Blatten sperrt erste Wanderwege.

Samstag, 17. Mai

Am Abend werden erste Anwohnerinnen und Anwohner von Blatten, der Gemeinde unterhalb des Kleines Nesthorns, evakuiert. Insgesamt müssen 92 Einwohnerinnen und Einwohner sowie 16 Gäste ihre Häuser verlassen.

Sonntag, 18. Mai

Der regionale Führungsstab Lötschental teilt mit, dass nach wie vor eine konkrete Bergsturzgefahr bestehe. Der Berghang ist instabil, es werden kontinuierlich Bewegungen und Gesteinsabgänge registriert. Seit Freitag bewegte sich die Ostflanke des 3341 Meter hohen Kleinen Nesthorns horizontal um 2,9 Meter und sank um 1,6 Meter ab.

HANDOUT - Blick auf die Ostflanke im Bereich Nesthorn/Birchgletscher in der Naehe von Blatten im Loetschental, Kanton Wallis, am Sonntag, 18. mai 2025. Der Berghang bleibt instabil, es werden kontinui ...
Blick auf die Ostflanke im Bereich Nesthorn/Birchgletscher in der Nähe von Blatten im Lötschental, Kanton Wallis, am Sonntag, 18. Mai 2025.Bild: keystone

Montag, 19. Mai

Jetzt muss es schnell gehen: Die Behörden ordnen die fast vollständige Evakuierung von Blatten an – das betrifft etwa 300 Menschen. Sie haben 30 Minuten Zeit, um ihr Hab und Gut zu packen. Am Mittag zwischen 12 und 12.45 Uhr kommt ein grosser Schub Fels herunter. Akut absturzgefährdet sei eine Felsmasse zwischen einer bis drei Millionen Kubikmetern. Alban Brigger von der Dienststelle für Naturgefahren: «Wir sprechen nicht von einem Felssturz, sondern von einem Bergsturz.» Am Abend bricht ein Teil des Gipfels in Stücken ab. Dabei lösen sich 150'000 bis 200'000 Kubikmeter Gestein.

Ein Helikopter fliegt ueber den mit Felsen und Geroell von einem Felssturz bedeckten Nestgletscher, an einer Flanke des Berges Bietschhorn im Loetschental, am Montag, 19. Mai 2025, aufgenommen auf ein ...
Die Lage am 19. Mai.Bild: keystone

Dienstag, 20. Mai

Die Nacht auf den Dienstag bleibt ruhig. Bisher sei der «Best Case» eingetreten, sagen die Behörden: Die Abbrüche seien nicht in einem einzigen Rutsch passiert, sondern in Teilen. So sei es weniger gefährlich. Von Entwarnung kann aber keine Rede sein: Laut den Radarmessungen ist nun auch der Gletscher instabil, er verschiebt sich nach vorne. Sollte ein Teil der Nordflanke des Kleinen Nesthorns direkt darauf fallen, könnte es zu einer plötzlichen Verschärfung der Situation kommen.

Mittwoch, 21. Mai

In der Nacht kam es am Kleinen Nesthorn zu weiteren kleinen Felsabbrüchen. Gemäss den Experten scheint sich die Bewegung im oberen Bereich des Kleinen Nesthorns verlangsamt zu haben. Anders am Birchgletscher: Wärmebildkameras zeigen, dass die Bewegung zunimmt.

Donnerstag, 22. Mai

Es kommt zu weiteren Felsabbrüchen. Dadurch hat sich ein massiver Schuttkegel auf dem Birchgletscher gebildet. Die Bewegung dessen Front hat sich nochmals beschleunigt: War die Front am Dienstag noch mit einem Tempo von 0,1 Meter pro Tag unterwegs, sind es nun bereits 1,5 Meter und schneller. Am Abend bricht erneut ein grösserer Teil der instabilen Felsmasse ab.

Freitag, 23. Mai

Es seien inzwischen zwei Drittel des Materials abgerutscht, heisst es von den Experten. Mehrere Rekognoszierungsflüge haben gezeigt, dass sich die Gletscherfront weiter beschleunigt: «Aufgrund des Geschwindigkeitstrends ist ein Kollaps und Absturz des Gletschers weiterhin wahrscheinlich.»

HANDOUT --- Steine eines Felssturzes vom Kleinen Nesthorn stuerzen auf den Birchgletscher im Loetschental, am Freitag, 23. Mai 2025, in Blatten. Das Dorf Blatten VS im Loetschental musste wegen der Ge ...
Der Kegel der abgestürzten Felsmassen erreicht fast die Gletscherfront.Bild: keystone

Samstag, 24. Mai

Die geologische Lage spitzt sich zu. Am Kleinen Nesthorn zeigen sich verstärkte Felsbewegungen, auch eine Eislawine vom Birchgletscher hat sich gelöst und ist bis auf 2100 Meter vorgedrungen. Die Gletscherfront bewegt sich immer schneller, jetzt schon mit 4,5 Meter pro Tag.

Sonntag, 25. Mai

Eine Woche nach der ersten Evakuierung ziehen die Behörden Zwischenbilanz: «Der Berg erodiert weiter», sagt Gemeindepräsident Matthias Bellwald. Bisher sei der Verlauf günstig, das Nesthorn sei kleiner geworden (an der Ostflanke um 101 Meter), der Gletscher aber schwerer und unberechenbarer. Insgesamt lastet auf dem Gletscher ein Gewicht von 9 Millionen Tonnen.

Montag, 26. Mai

Am Berg werden «weiterhin starke Bewegungen» registriert. Ausserdem gibt es mehrere Eisabbrüche an der Gletscherfront, die Eislawinen im Birchbach ausgelöst haben. Die Gletscherfront bewegt sich nun mit 10 Metern pro Tag.

Dienstag, 27. Mai

Gegen 18 Uhr kommt es zu einem grösseren Gletscherabbruch. Zahlreiche Bäume werden von der Geröllmasse umgeknickt und mitgerissen. Die Masse erreichte das Dorf nicht.

Mittwoch, 28. Mai

Am Morgen ruft der Walliser Staatsrat die «besondere Lage» aus. Ein Teil des Birchgletschers sei «stark einsturzgefährdet». Gletscherabbrüche, Felsstürze und Eislawinen zeugen davon, dass viel in Bewegung ist. Gegen 15.30 Uhr geschieht dann das Unfassbare: Es kommt zu einem massiven Gletscherabbruch, der grosse Teile des Dorfes Blatten unter sich begräbt. Der Schweizerische Erdbebendienst registriert ein Beben mit der Stärke von 3,1 auf der Richterskala. Der riesige Schuttkegel staut auch den Fluss Lonza auf, in der Folge kommt es am oberen Flusslauf zu Überschwemmungen. Deshalb werden Teile von Wiler und Kippel evakuiert.

Video: youtube/Pomona

Donnerstag, 29. Mai

Am Kleinen Nesthorn bestehen weiterhin erhebliche Instabilitäten – betroffen sind mehrere hunderttausend Kubikmeter Fels, wie der Kanton Wallis mitteilt. Auf beiden Seiten des Lötschentals besteht die Gefahr von Murgängen. Auch das im Talboden gelegene Absturzmaterial aus Felsen, Eis und Wasser ist instabil. Das macht derzeit jegliche Intervention im Katastrophengebiet unmöglich. (bzbasel.ch)

A aerial view captured one day after a massive avalanche, triggered by the collapse of the Birch Glacier, shows the destruction it caused as it swept down to the valley floor and demolishing the villa ...
So sieht es im Lötschental am Donnerstag aus.Bild: keystone

Bergsturz Blatten: Weitere Evakuierungen mit Helis

Video: watson/sabethvela
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Gletscherabbruch in Blatten VS
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Gletscherabbruch in Blatten VS

Der Fluss Lonza ist vom Geröll vollständig aufgefüllt worden. Das Wasser staut sich nun in einem entstandenen See auf.

quelle: keystone / jean-christophe bott
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13 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
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7immi
29.05.2025 15:05registriert April 2014
Trotz der ganzen Tragik finde ich es gut und vorbildlich, wie die Behörden und Bevölkerung vorgegangen sind. Man hat Alarmsignale richtig gedeutet, Fachleuten vertraut und korrekt entschieden. Natürlich sind 300 Obdachlose tragisch, es ist aber immer noch besser als 300 Tote. Ich bin beeindruckt ab der Ruhe, mit der die Betroffenen mit der Sache umgehen (vermutlich rechnet man ein Bisschen damit, wenn man dort lebt). Ist schon hart, wenn man sein Leben, sein Hab und Gut und alle Erinnerungen innert Sekunden verliert...
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    «Elon Musk ist einer der innovativsten Menschen, die ich kenne»
    Der Schweizer Thomas Zurbuchen hat als NASA-Forschungschef die Privatisierung der Weltraumtechnologie in den USA vorangetrieben. ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher hat dasselbe in Europa vor.

    Sie tragen beiden schwarze Anzüge und blaue Krawatten. Und sie mögen sich gut: Der österreichische ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher und der Schweizer Thomas Zurbuchen, der als Forschungsdirektor die NASA geführt hat. Eine weitere Gemeinsamkeit: Sie haben beide übervolle Terminkalender. Deshalb haben sie nur selten Zeit für einen kurzen Schwatz miteinander. Wir haben beide getroffen, um mit ihnen über die Zukunft der europäischen Raumfahrt zu sprechen.

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