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So stark können Lieferengpässe ADHS-Betroffenen zu schaffen machen

So stark können Lieferengpässe ADHS-Betroffenen zu schaffen machen

Unter den über 900 Medikamenten, die derzeit in der Schweiz nicht erhältlich sind, befinden sich auch Arzneimittel, die zur Behandlung von AD(H)S eingesetzt werden. Eine Betroffene erzählt, wie sie unter dem Versorgungsengpass leidet.
31.03.2024, 04:5531.03.2024, 07:53
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«Zurzeit nicht lieferbar.»

Diese Worte waren für Anina, die anonym bleiben möchte, ein Schock. Seit die 28-Jährige vor drei Jahren die Diagnose ADHS erhalten hat, kommt sie dank Medikamenten im Alltag besser zurecht.

Das Medikament Elvanse aus der Gruppe der Amphetamine ist zu ihrem täglichen Begleiter geworden. «Ich muss das Arzneimittel durchgehend nehmen, damit der Körper nicht durcheinanderkommt», sagt Anina. Denn nach einer Einnahmepause spüre sie die Nebenwirkungen des Medikaments für einige Tage stärker als sonst.

Das heisst konkret: Übelkeit, die den ganzen Tag andauert, innere Unruhe die ganze Nacht, nicht nur beim Einschlafen, mehrmals täglich aufkommende Magenkrämpfe.

«Wenn ich meine Medikamente nur einen Tag nicht einnehme, ist mir am nächsten Tag so schlecht, dass ich kaum etwas essen kann.»
Anina

Seit über sechs Monaten ist das Medikament, das Anina zur Behandlung von ADHS einnimmt, nicht mehr lieferbar. Verfügbar ist das Medikament nur in höheren Dosierungen.

Aus Angst vor noch stärkeren Nebenwirkungen versuchte Anina, auf andere, tief dosierte Präparate auszuweichen. Doch diese vertrug ihr Körper nicht. «Mit anderen Medikamenten fühlte ich mich niedergeschlagen, depressiv, ich schlief schlecht oder brachte vor Übelkeit und Appetitlosigkeit über mehrere Tage kaum einen Bissen runter.» Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich auf eine höhere Dosierung ihres bisherigen Medikaments einzulassen.

«Ohne die Medikamente kann ich in einem lauten Büro nicht funktionieren.»
Anina

Auch die erhöhte Dosis Elvanse führt bei ihr zu stärkerer Übelkeit und Appetitlosigkeit. «Aber wenigstens verfalle ich nicht in depressive Stimmung.» Und: Wenigstens könne sie so arbeiten. In einem lauten Grossraumbüro funktionieren.

AD(H)S-Serie
Unter AD(H)S leiden mehr Menschen, als man denkt. In der Schweiz geht man von 200'000 bis 500'000 Betroffenen aus. Dabei dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Doch noch immer wird die Diagnose als Modeerscheinung abgetan und der Krankheitswert bagatellisiert. Darum lenkt watson im Rahmen einer Serie den Fokus in den kommenden Wochen auf das Thema AD(H)S. Zu Wort kommen Fachpersonen sowie Betroffene.

Kolleginnen und Kollegen, die sie mehrmals in einer Stunde bei der Arbeit unterbrechen, die sich neben ihr laut unterhalten oder nur schon mit klackenden Schuhen an ihr vorbeilaufen, all das könnte sie ohne ein Medikament kaum aushalten. «Am Ende des Tages wäre ich dadurch so überreizt, dass ich auch kaum noch Energie hätte, um Hobbys nachzugehen, den Haushalt zu machen oder nur schon mich bettfertig zu machen.»

«Die Nebenwirkungen sind mühsam, aber das nehme ich in Kauf, um zu funktionieren.»
Anina

Ein Lichtblick gibt es für Anina derzeit nicht. Die Medikamentenverfügbarkeiten können sich pharmaSuisse zufolge von Tag zu Tag ändern. Der Schweizerischer Apothekerverband bestätigt, dass gerade die Verfügbarkeit von AD(H)S-Medikamenten momentan erschwert ist.

Somit haben sich auch die ADHS-Präparate in die Liste der über 900 Medikamenten eingereiht, die derzeit nicht oder nicht mehr verfügbar sind. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Das Problem der Versorgungsengpässe bei Medikamenten ist mittlerweile ein weltweites Thema, das uns noch sehr lange beschäftigen wird, steht im Bericht von pharmaSuisse.

Die Suche nach meist teureren alternativen Medikamenten sei mit sehr viel Aufwand verbunden. Die Arzneimittel zu importieren, sei mehrheitlich keine Option, da diese auch im Ausland fehlen. Viele Apotheken hätten indes damit begonnen, Medikamente selbst herzustellen – zum Beispiel, indem sie aus Wirkstoffen tiefere Dosierungen herstellen.

AD(H)S-Anlaufstellen
AD(H)S hat viele Gesichter und ist deshalb nicht immer leicht zu erkennen. Die Organisation adhs20+ fördert und unterstützt die Verbreitung von Informationen zum Thema AD(H)S im Erwachsenenalter. Diverse Kurse sowie kostenlose Beratung bietet die ADHS Organisation elpos.

Bei dem Medikament von Anina ist dies allerdings nicht möglich, da es sich um eine Pulverkapsel handelt, die so konzipiert ist, dass die Wirkung einige Stunden anhält.

Anina bleibt also nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ihr Medikament bald wieder lieferbar ist.

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53 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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EinfachSo
31.03.2024 12:23registriert März 2020
Zur Info für einige Kommentierende:

ADHS Medis sind Stimulanzien ja, aber in einer niedrigen Dosierung. Hast du kein ADHS mag das gefühlt etwas den Antrieb steigern.

Mit ADHS ist das nicht so, es macht sogar entspannter. Weniger innere und äussere Unruhe, kein Gedankenrasen ect. Endlich mal Ruhe im Kopf. Natürlich steigert es somit die Leistung des Betroffenen, aber weil er sich konzentrieren kann, nicht weil er high ist.

Mit der unbehandeltem ADHS ist die Gefahr einer Suchterkrankung um ein Vielfaches erhöht ( Selbstmedikation).
Auch bei vielen Gefängnis Insassen liegt ein ADHS vor.
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Sergej Faehrlich
31.03.2024 08:14registriert August 2018
An die Anina: meine Partnerin hatte dasselbe Problem. Die Lösung ist jedoch einfach. Eine Apotheke kann höher dosiertes Elvanse (zB. 70mg) aufteilen, abwägen und abfüllen, so dass die gewünschte Dosis erreicht wird. Kostet ein weing mehr, jedoch immernoch besser als Verzicht oder Überdosierung. Die Bellevueapotheke ZH bietet das beispielsweise an. LG
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Raph2018
31.03.2024 12:33registriert November 2020
Danke für die regelmässigen Berichterstattung! Es wäre toll auch andere Neurodivergenzen zu thematisieren (Autismus, Dislexie, Diskalkulie usw).
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