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Leeres Regal bei jeder dritten Pille: Der Medikamentenmangel wird ernst

Eine Mitarbeiterin der Spitalapotheke im Spital Interlaken richtet Medikamenten Blister fuer die Patienten der verschiedenen Abteilungen, fotografiert am Freitag, 10. Februar 2023. (KEYSTONE/Christian ...
Eine Mitarbeiterin der Spitalapotheke im Spital Interlaken richtet Medikamentenblister für die Patienten der verschiedenen Abteilungen.Bild: KEYSTONE

Leeres Regal bei jeder dritten Pille: Der Schweiz gehen die Medikamente aus

948 Lieferengpässe weist die Website drugshortage.ch auf. Spitalapotheker Enea Martinelli kann zu fast jedem davon eine Geschichte erzählen.
20.10.2023, 18:48
Anna Wanner / ch media
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Enea Martinelli steht vor einem Gestell voller Medikamente. Er greift gezielt nach einer Packung. Marcoumar, ein Blutverdünner. Der Chefapotheker des Spitals Interlaken kann wie zu jeder anderen Packung hier in seinem Reich eine Geschichte erzählen. Wobei sie sich nicht primär um die Wirkung des Medikaments dreht. Es sind die Liefer-Geschichten oder vielmehr Engpässe, die bald bei jedem dritten geläufigen Medikament auftauchen.

Martinelli ist die einzige Person in der Schweiz, die über eine umfassende Übersicht verfügt. Er zählt die Liefer- und Versorgungsengpässe seit acht Jahren. Und es ist kein Geheimnis, die Probleme nehmen zu: Aktuell weist seine Website drugshortage.ch 948 Lieferengpässe aus. Wöchentlich wird die Liste länger. Sie umfasst Beruhigungs- und Schlafmittel wie Temesta, Antibiotika, Schmerzmittel, Diabetes-Medikamente sowie Blutdrucksenker.

Marcoumar, der Blutverdünner, ist nicht drauf. Noch nicht. Doch für Martinelli ist das eine Frage der Zeit. Das Medikament, das zur Prophylaxe von Thrombosen und Embolien dient, verwenden rund 50'000 Patientinnen und Patienten in der Schweiz, auch im Spitalbereich wird es eingesetzt. Nur: Die 100er-Packung ist nicht mehr verfügbar. Also wechseln alle Apotheker auf die 25er-Packung, die auch bereits knapp wird.

Der nächste Schritt ist klar: Es wird binnen weniger Wochen zu einer Umstellung auf eine andere Therapie kommen, auf Noak (neue orale Antikoagulanzien). Deswegen müssen bald 50'000 Personen zum Arzt, um das Medikament anzupassen und dafür Laborwerte erstellen lassen. Das alleine wird schon mehrere Millionen Franken verschlingen.

Gleichzeitig steigen zwangsläufig die Medikamentenkosten. Eine Tagestherapie Marcoumar kostet rund 10 Rappen, wie Martinelli vorrechnet. Die Umstellung auf Noak bedeutet einen 25-fachen Aufpreis. Die Tagestherapie kostet neu rund 250 Rappen pro Patient. Auf ein Jahr hochgerechnet sind das Mehrkosten über 43 Millionen Franken - alleine für den Wirkstoff.

Die Rechnung ist theoretisch. Denn niemand weiss, ob und wann das Medikament wieder verfügbar ist, ob es je wieder geliefert werden kann.

Und da liegt genau der Kern des Problems: Es gibt in der Schweiz keine offizielle Stelle, die mögliche Engpässe antizipiert, um sie rechtzeitig anzugehen, Alternativen zu prüfen und allenfalls auch mit den ausländischen Nachbarn abzusprechen, wie das Problem gelöst werden kann. Martinelli führt seine Mangelliste aus eigenem Antrieb. Er sagt: «Dass diese privat betrieben werden muss, ist ein Armutszeugnis für unser Land.»

Tagtäglich ein immenser Aufwand, um Medikamente bereitzustellen

Dass ein Medikament mal nicht geliefert werden kann, ist kein neues Phänomen. Martinelli sagt: «Wir mussten auch vor zwanzig Jahren mit Engpässen umgehen.» Neu ist die Kadenz. Seit Corona mehren sich die Fälle von Unterbrüchen der Lieferketten: Manchmal fehlt eine Komponente für die Herstellung eines Medikaments. Manchmal fällt die Produktion aus. Oder China entscheidet, keine Medikamente mehr auszuführen.

Für die Spitalapotheken bedeutet das einen enormen Aufwand. Vor zwanzig Jahren musste sich Martinellis Team in Interlaken vier Mal pro Jahr um Ersatzmedikamente kümmern, heute kommt das mehrmals täglich vor.

Aktuell fehlt es an diesem Morgen im Spitalverbund Frutigen, Meiringen, Interlaken (FMI) an Tetanus-Impfungen. Wer mit einer Wunde ins Spital kommt, erhält eine solche Impfung zur Vermeidung eines Wundstarrkrampfs. Das ist Standard. Normalerweise braucht das Spital, das die Tourismusregion des Berner Oberlands versorgt, deren dreissig oder vierzig pro Wochenende. Doch bei grossen Events wie beispielsweise dem Unspunnenfest muss das Spital vorbereitet sein. Die Pharma-Assistentin Marianne Gehrig hatte 150 Dosen bestellt. Doch sie sind auch heute nicht eingetroffen. «Für das Wochenende werden unsere Vorräte reichen», sagt sie. «Dann schauen wir weiter.» Martinelli schiebt tröstend nach: «Wenn es regnet, sind immerhin weniger Biker unterwegs.»

Enea Martinelli hat sein Leben der Medikamentenversorgung verschrieben. In jungen Jahren präsidierte er den Spitalapothekerverband. Lieferengpässe gehörten schon damals zu den Sorgen seines Jobs. Er kämpfte für die Änderungen des Heilmittelgesetzes 2010, die erstmals Importe aus dem Ausland erlaubten. «Vorher mussten wir für jeden Patienten, der ein Medikament brauchte, einen Antrag dafür stellen. Das war ein absurder Aufwand für ein Problem, das leicht zu lösen war.»

Es ist also nicht so, dass seither politisch nichts passiert ist. Jetzt geht das Organisieren eines Ersatzproduktes zwar leichter, auch weil Martinelli über gute Kontakte ins Ausland verfügt. Aber häufig sind Lieferengpässe nicht auf ein Land beschränkt. Das Problem ist global, wie das Beispiel der Tuberkulose zeigt: Gegen die Infektion gibt es noch ein einziges Antibiotikum, das in Südkorea hergestellt wird. Die Kontrollen ergaben Qualitätsprobleme in der Produktion, die Firma wollte die Fabrik schliessen. Um das zu verhindern, akzeptiert die Pharma-Welt als Kompromiss nun qualitativ minderwertigere Produkte.

Martinelli erklärt, es gebe bei Arzneimitteln im Bereich der Volkskrankheiten kaum mehr Innovation. «Die Medikamente kosten nichts mehr, darum besteht kein Interesse, diese weiter zu erforschen, geschweige denn zu produzieren.»

Suche nach gescheiten Lösungen verschleppt

Einfache Lösungen dieses Problems gibt es nicht. Als ersten Schritt verlangt Martinelli vom Bund, die Engpässe als Problem endlich anzuerkennen. Dazu gehört etwa, dass die Schweiz eine eigene Beurteilung der Versorgungslage macht. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung führt zwar eine eigene Liste. Sie hilft aber nur beschränkt, weil sie die Wirkstoffe sehr selektiv aufführt.

Die Abstützung allein auf die WHO-Liste mit den fehlenden «essential drugs» funktioniert auch nicht. So steht beispielsweise das eingangs erwähnte Marcoumar nicht auf der WHO-Mangelliste, weil weltweit ein anderes Präparat aus der gleichen Klasse viel häufiger verwendet wird. Das ist aber in der Schweiz nicht zugelassen. Den drohenden Marcoumar-Mangel hat die offizielle Schweiz also noch nicht erkannt.

Medikamente lagern in einem Regal der Apotheke Weissenau, die Apotheke des Spitals Interlaken, eingelagert und bewirtschaftet, fotografiert am Freitag, 10. Februar 2023 in Interlaken. Die Apotheke der ...
Nicht mehr alles ist vorhanden in der Spitalapotheke Interlaken.Bild: KEYSTONE

«Die Schweiz braucht eine offizielle Liste, über welche sie bei Engpässen warnt und auf Alternativen verweist.» Der Kontakt zu den Herstellern und eine gewisse Frühwarnung sind wichtig. Wenn beispielsweise ein Pharmaunternehmen entscheidet, die Produktion eines wichtigen Medikamentes einzustellen, liesse sich das antizipieren. Denn vor allem im Moment, wenn sich kein Geld mit patentabgelaufenen Produkten verdienen lasse, verlieren die Hersteller das Interesse an der Produktion oder an einer Zulassung für den kleinen Markt Schweiz.

Dann gilt es, mit dem Unternehmen eine Lösung zu finden, die für beide Seiten stimmt. Denn Martinelli sagt: «Wir können kein Unternehmen zwingen, ein Medikament zum Verlustpreis zu produzieren.» Er wisse, dass ihm solche Aussagen den Ruf eintragen, er sei ein verkappter Vertreter der Pharmaindustrie. Martinelli wehrt das vehement ab: «Ich habe nur meine Patienten im Kopf.» Sobald ein Medikament fehle, könnten sie nicht mehr optimal behandelt werden. Es ist ein Fakt, das nicht alle gerne hören wollen: «Im Streit um Medikamentenpreise sitzt die Pharma am längeren Hebel, deshalb braucht es ein Gegenkonzept.»

Entscheidend sei es, nach Lösungen zu suchen, bevor Patientinnen und Patienten zu Schaden kommen. Ohne Konzept passiert aber genau das. Aus diesem Grund fühlen sich viele Apotheker wie auch Ärztinnen bei allem verständlichem Preisdruck auf Arzneimittel im Stich gelassen.

Ideen sind vorhanden. In Frankreich beispielsweise hat Präsident Emmanuel Macron 50 Medikamente als lebenswichtig erklärt und angeordnet, sie im Land zu produzieren. Belgien schreibt die Herstellung wichtiger Medikamente aus: Produktionsfirmen können Preise vorschlagen, zu welchen sie bereit wären, das Medikament zu produzieren.

Zwar kennt die Schweiz keine solche Industriepolitik. Doch bereits eine bessere internationale Koordination könnte Fortschritte bringen. Allerdings hat die Abhängigkeit vom Ausland auch ihre Schattenseiten: In der Krise ist sich jedes Land selbst am nächsten. Tatsächlich wird die Medikamentenversorgung angesichts der instabilen weltpolitischen Lage, der Abhängigkeit der Lieferketten und des Verschwindens von Produktionsstätten zunehmend zu einer Frage der nationalen Sicherheit.

Enea Martinelli steht nun vor einem Gestell in der Ecke des Kellers, darin stehen alles importierte Medikamente, die in der Schweiz nicht mehr zugelassen sind und grundsätzlich importiert werden müssen. Ein Medikament gegen Panikattacken (Doxepin), gegen Herzschwäche (Digoxin), gegen Schilddrüsenüberfunktion (Natriumperchlorat), Phosphatmangel (Natriumphosphat), Wirkstoffe, die seit Jahren den Menschen helfen, verschwinden vom Markt. Es ist zum Verzweifeln.

Der Apotheker wird in der Mangellage zum Egoisten

Allerdings, und das ist wohl auch ein Grund, wieso es so schwierig ist, die Situation zu erfassen: Eine Bestandesaufnahme der vorhandenen und fehlenden Medikamente sei gar nicht so einfach zu machen, sagt Martinelli. Meldet der Produzent Probleme, kann der Grossist oder die Apotheke das Mittel noch an Lager haben, ohne dass es so zu einem Engpass kommt. Gleichzeitig neigen die Apotheken dazu, knappe Medikamente zu horten. Für Martinelli ist das Verhalten erklärbar. «Jeder hat seine Patienten und deren Versorgung im Sinn.» Die Patientensicherheit habe erste Priorität. «Dann wird jeder Apotheker zum Egoisten.»

Auch aus einem anderen Grund funktioniert die Idee, dass beispielsweise Spitäler als Puffer in der Medikamentenversorgung funktionieren, nicht. Das Bedürfnis der Patienten in Apotheken und Spitälern sei ein ganz anderes. Medikamente der Grundversorgung gibt es zwar auch im Spital, jedoch eingeschränkt, da die Patienten in der Regel nur kurz dort sind.

Nicht immer gibt es einen Ersatz, was auch zu Konflikten führen kann. Aktuell fehlt ein Anästhesiemittel für Schulteroperationen. Es gibt andere Mittel, aber das erprobte Mittel ermöglicht dem Patienten kurz nach der Operation den Arm wieder zu bewegen. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeit der Anästhesistin. Die Patienten warten länger, bis sie den Arm wieder bewegen können. Da schwindet schnell das Verständnis, wieso nun auf ein anderes Anästhetikum gewechselt werden muss.

Panik darob muss vorerst keine ausbrechen. Die Realität ist häufig: Es gibt einen anderen Weg, es ist einfach nicht der beste. (aargauerzeitung.ch)

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120 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Walser
20.10.2023 19:21registriert Februar 2018
Und das im Land der Pharma. Wo die Bürger meist das Doppelte für Medis bezahlen als im Rest der Welt. Wozu, frag ich mich jetzt. Die Bosse und Eigentümer sind skrupellos. Genau wie unsere Parlamente, die diese Praxis am Laufen halten.
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fkyvm
20.10.2023 19:46registriert November 2022
Ok, fassen wir zusammen:

«Die Medikamente kosten nichts mehr, darum besteht kein Interesse, diese weiter zu erforschen, geschweige denn zu produzieren.» &
«Im Streit um Medikamentenpreise sitzt die Pharma am längeren Hebel, deshalb braucht es ein Gegenkonzept.» -- Ergo: die private Marktwirtschaft im Bereich Gesundheit durchzustieren, führt zu miserablen Ergebnissen und kommt uns alle teuer zu stehen. 'Die Wirtschaft' löst hier gar nicht von allein, sondern reitet uns weiter rein! Staatliche Akteure ein gesundes Mass Planwirtschaft müssen her!
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Pitch Black
20.10.2023 21:29registriert März 2022
Aber eine Frage lässt mich einfach nicht los. Wir haben keine Medikamente mehr, in den Spitälern haben wir kein Personal und wer einen Hausarzt sucht bekommt die Antwort man nehme keine neuen Patienten mehr auf. Also ohne Personal und Medikamente haben wir explodierende Gesundheitskosten.
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