Regungslos lag Gino Mäder im Wasser, als ihn der Rennarzt antraf. Der 26-jährige Schweizer Radprofi war auf der Fahrt hinunter vom Albulapass bei hohem Tempo einen Abhang hinuntergestürzt.
Mäder war nicht ansprechbar und musste wiederbelebt werden. Ein Rega-Helikopter flog ihn nach Chur ins Kantonsspital. Nähere Angaben zur Schwere seiner Verletzungen machten sein Arbeitgeber, das Team Bahrain Victorious, und die Organisatoren der Tour de Suisse bis am Freitagvormittag nicht. Kurz nach Mittag kam dann die traurige Mitteilung, dass der Radprofi verstorben ist.
Es war mit Weltmeister Remco Evenepoel einer der prominentesten Fahrer, der nach der Etappe am klarsten Stellung gegen die Organisatoren nahm. «Eine Bergankunft wäre sehr gut möglich gewesen, es war keine gute Entscheidung, uns noch diese gefährliche Abfahrt fahren zu lassen», schrieb der 23-jährige Evenepoel. Gleichzeitig wandte sich der Belgier an seine Berufskollegen: «Wir Fahrer sollten auch über die Risiken nachdenken, die wir eingehen, wenn wir einen Berg hinunterfahren.»
Dass die Etappe nicht auf dem Albulapass endete, hat seine Gründe. In erster Linie ist es eine grosse logistische Herausforderung, die gesamte Zielinfrastruktur dort oben aufzubauen. Neben dem Hospiz gibt es einige Parkplätze, ansonsten ist da nur Wiese.
Eine Variante wäre eine «Light-Variante» des Ziels gewesen, bei der nur alles wirklich notwendige auf der Passstrasse aufgebaut worden wäre. Die ist beim Albulapass auf rund eineinhalb Kilometern ziemlich flach.
Es gibt einen weiteren gewichtigen Grund, weshalb sich das Ziel im Tal unten befand. Die Tour de Suisse ist ein Anlass, der zu den Leuten will. Die Rundfahrt will ein Volksfest sein, will gerade in den Etappenorten auch dafür sorgen, dass nicht bloss ein Velorennen vorbeikommt. Das Engadiner Dorf war nach der Überquerung des Albulapasses schon mehrmals Etappenort, zuletzt in den Jahren 2010, 2013 und 2017.
Bei einer Ankunft auf der Passhöhe könnte kein Rahmenprogramm organisiert werden. Es kämen keine Schulklassen in Kontakt mit dem Sport, es hätte keinen Platz für Gäste der Sponsoren, die letztlich mit ihrem Geld dafür sorgen, dass es die Tour de Suisse überhaupt gibt. Es wäre eine sterile Zielankunft im Corona-Stil. Das will niemand.
Gefährlicher als andere Abfahrten ist jene nach La Punt nüchtern betrachtet nicht, darauf wies auch der deutsche Profi Simon Geschke hin. Der 37-jährige Etappensieger bei der Tour de France antwortete Remco Evenepoel: «Die Abfahrt war nicht gefährlich: gute Strasse, keine Tunnels, die Kurven gut sichtbar.» Er stimme hingegen zu, dass es auf den letzten zehn Kilometern eines Rennens zu Problemen kommen könne. «Aber», betonte Geschke, «es sind die Fahrer, die die Risiken eingehen, nicht nur bei Abfahrten».
Jeder, der sich auf den Sattel schwingt, kennt die Gefahren, ganz gleich ob Profi oder Hobbyfahrer. Man muss sein Gefährt gut beherrschen können, wenn man auf schmalen Pneus und mit einem Helm als einziger Schutzausrüstung mit 60, 70 oder gar, wie gestern am Albulapass, mit 100 km/h zu Tale rast. Man braucht Vertrauen in sein Material und dazu – wohl häufiger als einem lieb sein kann – einen Schutzengel, wenn einen eine Windböe erfasst, man einem Stein auf der Strasse ausweichen muss oder man wegen eines anderen Verkehrsteilnehmers oder einer Kuh plötzlich abbremsen muss.
Wie es zum schweren Sturz von Gino Mäder kam, ist unklar. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft sucht sie Zeugen, die den Unfall möglicherweise gar gefilmt haben. Vielleicht ist es ganz gut, mussten die Organisatoren der Tour de Suisse wegen des Felssturzes von Brienz umplanen. So müssen die Fahrer heute nicht erneut über den Albulapass und dabei die Unfallstelle passieren. Stattdessen startet die 6. Etappe nach Oberwil-Lieli nicht in La Punt, sondern in Chur.