Stell dir vor, du bist der Boss eines grossen Filmstudios in Hollywood. Vor dir auf dem Tisch liegen die Beschriebe dreier möglicher Blockbuster. Aber du musst dich für einen Film entscheiden. Welcher soll es sein?
Messi oder Ronaldo, Ronaldo oder Messi? Seit eineinhalb Jahrzehnten diskutiert die Fussballwelt darüber, wer besser ist. Lionel Messi und Cristiano Ronaldo führten ihre Klubs zu den grössten Siegen, ihre Torbilanzen sind nicht von dieser Welt.
Nun wird in Katar das womöglich letzte Kapitel in der GOAT-Debatte geschrieben. Gelingt es einem der beiden «Altstars» (Ronaldo ist 37 Jahre alt, Messi 35), sein Land zum Weltmeistertitel zu führen? Ronaldo, dessen Stern im Sinkflug ist, schaffte es bei Portugal zuletzt nicht mal mehr in die Startelf und er schied im Viertelfinal aus.
Stattdessen muss CR7 am Sonntag vielleicht miterleben, wie sein Dauerrivale Messi tatsächlich schafft, was ihm verwehrt bleiben wird. «La Pulga» glänzt in Katar. Er spielt ein herausragendes Turnier, hat fünf Tore selber erzielt und drei weitere vorbereitet. Wie er nach der Startpleite gegen Saudi-Arabien dem Druck gegen Mexiko standhielt, war bewundernswert. Wie er im Halbfinal das 3:0 gegen Kroatien einleitete, war phänomenal. Dazwischen brillierte er auch in seinem 1000. Spiel als Profi gegen Australien.
Lionel Messi ist der unumstrittene Anführer seines Teams, wie ein Lastwagen-ziehender Kraftmeier riss er Argentinien in den Final. Wohl jeder, der in der GOAT-Frage nicht befangen ist und ein Herz für den Fussball hat, wünscht ihm den Titel. Erhält dieser Film ein Happy End?
32 Nationen schafften es, sich für die WM zu qualifizieren. Eine Handvoll Nationen wurde im Vorfeld zu Favoriten ernannt. Die Chancen von Marokko? Nicht grösser als ein Sandkorn. Die Gruppengegner Kroatien und Belgien schienen übermächtig zu sein. Aber die Marokkaner lehrten sie das Fürchten, holten ein 0:0 gegen die Kroaten und schlugen Belgien 2:0. Beim 2:1 gegen Kanada kassierten sie das einzige Gegentor an dieser WM – es war ein Eigentor.
Kein Gegner schaffte es, Marokkos Goalie Bono zu bezwingen. Nicht in der Gruppenphase, nicht im Achtelfinal die Spanier, nicht im Viertelfinal die Portugiesen. Dafür tanzte Sofiane Boufal, der es als Kind nicht einfach hatte, nach dem Halbfinal-Einzug noch auf dem Rasen mit der Mutter.
Die Marokkaner schafften es dank ihrem Kollektiv so weit: Dass jeder für jeden geht, ist in ihrem Fall keine Floskel. Dabei wird dem Aussenseiter nichts geschenkt. Stammspieler mussten zuletzt verletzt zuschauen, andere mussten verletzt ausgewechselt werden, ein weiterer ist im Halbfinal gesperrt. Bislang liessen sich die Marokkaner auch davon nicht aus der Bahn werfen.
Noch nie kam ein Team aus Afrika an einer WM so weit, Marokko ist die Hoffnung für einen ganzen Kontinent und dazu für die gesamte arabische Welt. Der Pokal wäre die Krönung dieses Sportmärchens aus 1001 Nacht. Ein Happy End wäre beinahe kitschig – oder etwa nicht?
Nur zwei Mal in der Geschichte gelang es einer Mannschaft, ihren WM-Titel vier Jahre darauf erfolgreich zu verteidigen: Italien 1934/1938 und Brasilien 1958/1962. Wer auch immer es danach versuchte, scheiterte.
Frankreich drohte also vielmehr der «Titelverteidiger-Fluch». An den letzten drei Weltmeisterschaften schieden die Titelverteidiger jeweils schon in der Vorrunde aus, Frankreich selber ereilte dieses Schicksal 2002 nach dem ersten WM-Titel ebenfalls. Und es fehlte Weltfussballer Karim Benzema ebenso verletzt wie die Mittelfeldstrategen N'Golo Kanté und Paul Pogba.
Doch der «Equipe Tricolore» gelang es mit ihrem unerschöpflich scheinenden Talentreservoir, die Lücken auszufüllen. Und sie kann sich in Katar erneut auf Kylian Mbappé verlassen. 2018 in Russland war er noch ein Teenager und trotzdem schon Stammspieler, traf auch im WM-Final. Nun hat Mbappé bereits wieder fünf Treffer erzielt und mit seiner Geschwindigkeit die Gegner reihenweise schwindlig gedribbelt.
Nicht jedes Remake eines grossen Hits wird zum Kassenschlager. Dasjenige Frankreichs hat allerdings eindeutig das Potenzial dazu – denn Trainer Didier Deschamps hat vieles geändert. Im Viertelfinal gegen England standen nur fünf Spieler in der Startelf, die vor vier Jahren im WM-Final begannen. Aber vor dem Happy End muss erst noch das Desaster verhindert werden, ein Ausscheiden gegen den Underdog im Halbfinal: Mit einem Sieg gegen Marokko wäre Frankreich der erste Titelverteidiger seit Brasilien 1998, der es ins Endspiel schafft.