Die Rivalität zwischen England und Deutschland ist im internationalen Fussball eine der ältesten und grössten. Dass zum nächsten Jahr Thomas Tuchel als Nationaltrainer der Three Lions übernimmt, ist dementsprechend fast ein Politikum und die Aufregung in gewissen Kreisen gross. Zwar ist der 51-Jährige nach dem Schweden Sven-Göran Eriksson und Fabio Capello aus Italien bereits der dritte Ausländer, der England trainiert. Aber Tuchel ist eben Deutscher.
In einem polemischen Kommentar schreibt die «Daily Mail» am Tag der Verkündung des Vertrags bis zur WM 2026, dass es «ein dunkler Tag für England» sei. Das Nationalteam müsse «bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein. Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht». Gareth Southgate war zwar nicht überall beliebt, aber «er war einer von uns». Tuchel hingegen sei nur ein «Söldner», lamentiert die englische Tageszeitung und bilanziert: «Wir sind die Lachnummer des Sports.»
Etwas weniger dramatisch als das Boulevardblatt, das Tuchel ausserdem einen «fragwürdigen Hintergrund als Trainer» attestiert, urteilt der «Telegraph» über die Verpflichtung des Deutschen. Die Meinung ist jedoch die gleiche: «Der englische Nationaltrainer sollte ein Engländer sein.» Schliesslich gehe es im internationalen Fussball darum, dass sich die jeweils Besten der einzelnen Länder miteinander messen. Und tatsächlich ist England neben Uruguay der einzige Weltmeister, der bereits einen ausländischen Trainer unter Vertrag genommen hat.
Deshalb sieht darin auch der «Independent», der die Verpflichtung Tuchels als «Coup» bezeichnet, ein Armutszeugnis für den englischen Fussball. Der Verband habe so viel Zeit und Geld darin gesteckt, Trainer auszubilden und diese über die Juniorenteams heranzuzüchten wie im Falle von Gareth Southgate oder Interimstrainer Lee Carsley, der ebenfalls als Kandidat galt. Und trotzdem wird nun wieder ein ausländischer Trainer verpflichtet. «Dies verleiht der Ernennung Tuchels einen Hauch von Verzweiflung, da es sich um eine so plötzliche Abweichung von einer Idee handelt.»
Tuchel selbst zeigt Verständnis für die Kritik an seiner Herkunft, wie er bei seiner Vorstellung am Mittwochnachmittag erzählte: «Jeder hat seine Meinung und ich kann auch nachvollziehen, wenn jemand lieber einen englischen Trainer für England gehabt hätte.» Zu diesen Menschen gehört auch der langjährige Premier-League--Coach Harry Redknapp, wie dieser gegenüber Sky sagte. Der Schwabe wolle mit dem Nationalteam nun aber Erfolge feiern, dann könne der ein oder andere vielleicht über seinen deutschen Pass hinwegsehen.
Zumal Tuchel eine grosse Leidenschaft für England hat, wie er sagt. Diese komme nicht zuletzt aus seiner Zeit bei Chelsea, das er in der Saison 2020/21 zum Champions-League-Titel führte. Von dort kennt er auch einige Nationalspieler wie Mason Mount, Reece James oder Tammy Abraham. Bei Bayern arbeitete er in der letzten Saison ausserdem mit Harry Kane zusammen. Über den Stürmer sagte er am heutigen Mittwoch: «Jeder weiss, wie viel er mir als Spieler bedeutet. Ich habe viel getan, um ihn zu Bayern München zu holen.»
Englands Rekordtorschütze äusserte sich seinerseits ebenfalls sehr positiv über seinen ehemaligen und künftigen Coach. Tuchel sei «ein fantastischer Trainer und ein fantastischer Mensch», sagte Kane, noch bevor klar war, dass der Deutsche neuer Nationaltrainer Englands wurde. Der 31-jährige Stürmer gehört neben weiteren Superstars wie Phil Foden, Jude Bellingham oder Bukayo Saka zum Grundgerüst, das Tuchel zum Erfolg führen soll.
Vorgänger Southgate gelang es trotz zweimaligen Erreichens des EM-Finals nicht immer, das Beste aus den eigentlich hervorragenden Einzelspielern herauszukitzeln. Tuchel wird dies hingegen zugetraut. Dies liegt einerseits daran, dass er bei allen seinen bisherigen Stationen wie Dortmund, PSG, Chelsea und zumindest zu Beginn auch in München erfolgreichen Fussball spielen liess. Und andererseits daran, dass Tuchel bei seinen Spielern jeweils sehr beliebt ist.
Als Ziel gibt der Trainer klar den WM-Titel 2026 aus. Da der Fokus auf der Weltmeisterschaft liege, fange Tuchel auch erst nach den verbleibenden Nations-League-Spielen im November als Nationaltrainer an. Den grossen Wurf beim nächsten grossen Turnier hält England-Legende Rio Ferdinand für durchaus realistisch. «Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Thomas Tuchel in seiner Zeit mit England ein Turnier gewinnt», so der 45-jährige Ex-Profi auf seinem YouTube-Kanal.
Neben der Tatsache, dass er das zuvor kriselnde Chelsea übernommen und zum Champions-League-Titel geführt hat, liegt Ferdinands Zuversicht vor allem an Tuchels taktischer Finesse und seiner Fähigkeit, ein Team für einzelne Spiele perfekt einzustellen. In Micah Richards zeigt sich ein weiterer ehemaliger englischer Nationalspieler überzeugt von Tuchel als «aussergewöhnlichem Trainer und bewährter Sieger».
Der «Guardian» glaubt, dass die Three Lions grosse Freude an Tuchels unterhaltsamen und innovativen Trainings haben werden. Ausserdem werde Tuchel bei Journalisten und Fans aufgrund seiner Intelligenz, seines Humors und seiner Offenheit beliebt sein. Nicht zuletzt aufgrund seiner Emotionalität, die auch mal zu Auseinandersetzungen mit dem gegnerischen Trainer führen könne, wie in seiner Zeit bei Chelsea mit Tottenham-Coach Antonio Conte. Nahezu euphorisch titelte die «Sun» in Anlehnung an das geflügelte Wort der englischen Fussballfans und den deutschen Trainer: «Fussball kommt nach Hause.»
Am Ende wird Tuchel aber wie jeder seiner Vorgänger – ob Engländer oder nicht – an den Ergebnissen gemessen. Im März beginnt für ihn und die Three Lions die WM-Qualifikation. «Wir haben Spieler, die in den grössten Klubs in den weltweit stärksten Ligen spielen. Wir haben also die Voraussetzungen», sagt Tuchel über einen möglichen Titelgewinn. Während er Gareth Southgate, der nach dem verlorenen EM-Final im Juli zurückgetreten war, für dessen hervorragende Arbeit lobte, sagte der Deutsche auch: «Jetzt wollen wir noch etwas draufpacken.»
Sogar die Engländer sollten doch inzwischen wissen, was die Patrioten aus ihrem Land gemacht haben.
Schlimmer geht fast nicht mehr... 🫣