Als wir Andri Ragettli eineinhalb Wochen vor dem Saisonstart in einem Appartement-Komplex in Saas Fee treffen, hat er soeben einen neuen Post auf Instagram abgesetzt. «Quick Reminder: Trust the process!», schreibt er unter ein Video, auf dem er zeigt, wie er versucht auf einem Geländer zu sliden, das immer wieder nicht schafft – ehe es nach unzähligen Versuchen dann doch gelingt.
Das Originalvideo ist vor einem Jahr viral gegangen – so wie viele seiner Videos. Zwischen zwei Interviewterminen hat er jetzt das Folgevideo gepostet. Ragettli hetzt von Termin zu Termin, wirkt aber sehr entspannt. Dabei steht für den Freeskier der Saisonstart kurz bevor.
Heute startete mit dem Big Air in Chur seine Weltcupsaison. Es ist der Startschuss in den Winter, zumindest ein bisschen. Andri Ragettli sagte davor: «Eigentlich bin ich noch immer mitten in der Vorbereitung. Ich muss in Chur einfach zwei Tricks auf Lager haben.» Dies klappte jedoch nicht so recht. Wie die weiteren zwölf Schweizer verpasste er den Final der Top Ten vom Freitagabend.
Nach dem Weltcup in seiner Heimat steht für den 26-jährigen Bündner wieder eine fünfwöchige Pause an, ehe es im Weltcup Schlag auf Schlag geht. Vorher spricht er im Gespräch über seinen Erfolg in den sozialen Medien – und einen falschen Eindruck, den die Menschen über ihn haben.
Sie sind auf Instagram aktiver und erfolgreicher als Ihre Konkurrenten. Wie gross ist im Weltcup-Zirkus der Neid auf Sie?
Andri Ragettli: Es wirkt so, als würde ich mega viel in den sozialen Medien machen. Aber das ist eigentlich gar nicht so. Meine Aktivitäten sind einfach gut geplant. Wenn ich es in Prozentzahlen sagen müsste, mache ich 95 Prozent Sport und vielleicht fünf Prozent Social Media. Es ist also wirklich nicht so, dass ich die ganze Zeit am Smartphone hänge. Was dies aber sicher bewirkt, ist, dass es polarisiert. Es wird geredet, wenn man viele Menschen erreicht – positiv und negativ. Es gibt sicher auch ein paar Menschen, die mich nicht so cool finden. Es gibt aber auch einige, die wegen mir angefangen haben, Freeski zu fahren.
Und wie sieht dies bei Ihren Konkurrenten aus?
Wahrscheinlich sehr ähnlich. Auch dort wird es ein paar geben, die mich cool finden und andere, die mich weniger mögen. Aber das interessiert mich nicht. Die meisten, die mich kritisieren, sind weniger gut. Und wenn einer, der nicht einmal in die Top 20 fährt, mich dafür kritisiert, was ich in den sozialen Medien mache, dann ist mir das egal. Ich mache mein Ding, das war schon immer eine meiner grössten Stärken. Ich habe meine Vorstellung und mein Ziel, dann ist es mir egal, was andere denken. Gerade im jungen Alter machen viele Dinge, nur um dazuzugehören. Mir war das egal: Ich habe einfach immer gemacht, was mir gefällt hat.
Woher nahmen Sie dieses Selbstverständnis, Ihr Ding durchzuziehen?
Es ist natürlich nicht so, dass ich mich gar nie frage, was andere denken. Manchmal kann das ja auch wichtig sein, vor allem von Menschen, die einem etwas bedeuten. Aber meistens mache ich mir diese Gedanken nicht. Und woher ich das habe? Wahrscheinlich, weil ich klare Vorstellungen und Ziele habe. Ich weiss, was ich will. Und das ist mir wichtiger als das, was andere denken.
Wie sehen diese Ziele aus?
Ich habe immer mehrere Ziele in unterschiedlichen Dingen. So habe ich natürlich sportliche Ziele, in dieser Saison will ich eine Medaille an der Heim-WM in St. Moritz und im Jahr darauf eine Olympiamedaille. Ich habe das Ziel, auf Instagram die Millionenmarke zu knacken. Dann gibt es auch finanzielle Ziele. Und ein weiteres grosses Ziel von mir: einmal «Schweizer Sportler des Jahres» zu werden.
Viele Sportlerinnen und Sportler sagen, dass Ihnen solche Auszeichnungen nicht so wichtig sind. Sie dagegen sprechen offen davon, eine solche Auszeichnung zu holen. Weshalb?
Dann wäre ich der erste Schweizer «Sportler des Jahres» einer Freestyle-Sportart. Das hätte deshalb eine hohe Bedeutung. Ob ich das irgendwann schaffen werde, weiss ich nicht. Zudem ist es ein Ziel, das ich nicht zu verbissen sehen möchte. Es hängt auch von anderen Leuten ab. Aber es gibt die Erzählung, dass ich damals als ich mit 11 Jahren zum ersten Mal in eine Talentschule kam, gefragt wurde, was meine Ziele seien. Daran mag ich mich selber nicht mehr genau erinnern, aber offenbar habe ich gesagt: «Ich will den Freestyle-Sport neu gestalten, ihn grösser machen.» In diesem Sinn würde ich dieses Ziel erreichen, wenn ein Freestyle-Sportler in der Schweiz eine solche Ehre bekäme.
Sie haben gesagt, sie möchten über eine Million Instagram-Follower haben: Was würde das für Sie ändern?
Ich bin jetzt bei rund 655'000. Demnach würde die Zahl von einer Million nicht so viel verändern. Doch es wäre ein schönes Ziel. Auch hier wieder aus einem einfachen Grund: Früher hiess es immer, als Freestyler werde man eh nie Leute erreichen. Niemand würde sich dafür interessieren. Bei mir ist es schon immer eine grosse Motivation gewesen, den Leuten zu beweisen, dass es als Freestyler möglich ist, etwas zu bewegen.
Es gibt Sportler, die manchmal fast grösser werden als Ihr Sport. Das trifft auch auf sie zu: Viele kennen Sie, obwohl sie den Freestyle-Sport nicht verfolgen.
Das mag sein. Angestrebt habe ich das aber nicht. Es soll so sein: Ich soll grösser werden – und der Sport soll grösser werden.
Wird denn Ihr Sport tatsächlich grösser?
Ja, und wie. Es hat sich so viel getan, das ist unglaublich. Ich bin damals mit 15 in den Weltcup gestartet, jetzt bin ich seit zehn Jahren dabei. Was in dieser Zeit gegangen ist, ist jenseits. Wir haben drei Weltcup-Events in der Schweiz, haben in diesem Winter eine Heim-WM in St. Moritz. Alles ist viel professioneller geworden, wir Athleten sind viel gefragter als früher. Vor noch sieben Jahren wurde ein Weltcup nicht einmal ausgestrahlt, heute wird viel darüber geredet und berichtet. Es gibt Airbags in der Schweiz, wo wir trainieren können und es hat in vielen Gebieten gute Parks.
Wer hilft Ihnen dabei, die sozialen Medien und Ihr Training unter einen Hut zu bekommen?
Es ist schon viel auch von mir selber. Niemand nimmt dir die Arbeit ab. Du musst mit den Ideen kommen, du musst bereit sein, diese Videos zu machen – und die Tricks auch üben. Aber natürlich ist mein Bruder Gian eine sehr grosse Hilfe. Er filmt alles, mit ihm kann ich immer abmachen. Dann gehe ich über eine Agentur, mit der ich vor allem Ideen für Werbungen ausarbeiten kann. Ich habe auch ein gutes Netzwerk aufgebaut über die Jahre. Und sonst steckt wirklich viel Planung dahinter.
Wie zeigt sich das?
Einige denken, dass ich im Sommer nur die ganze Zeit am Videodrehen bin. Aber so ist es nicht, ich trainiere dann zum Beispiel zwei Wochen lang auf dem Berg. Dann sage ich am Samstag: «Gian, ich habe eine Idee.» Dann gehen wir nach Zürich, dort habe ich eine Brücke gefunden, die genau jenes Geländer hat, worauf ich sliden möchte. Dann filmen wir den Trick – und am Nachmittag um drei sind wir fertig. Im Ganzen hat dann das Video einen Aufwand von sechs Stunden benötigt. Die restlichen Stunden der Woche war ich am Trainieren auf dem Airbag. Die Leute haben den Eindruck, dass ich den ganzen Tag nur Videos drehe.
Stört Sie das?
Manchmal ein bisschen, weil viele Leute nicht ganz verstehen, wie mein Tag aussieht. Ich bin in erster Linie Sportler. Aber manchmal muss ich auch sagen, dass ich auf Instagram zum Beispiel gezielt nicht poste, wenn ich am Trainieren bin. Oft folgt mir ja auch die Konkurrenz, dann poste ich lieber manchmal ein Foto, auf dem ich gerade am Baden bin. Dann denken sie, ich sei nur am Chillen. Ich versuche, nicht mehr alles zu zeigen, was ich gerade am Trainieren bin.
Sie haben angekündigt, dass in diesem Winter neue Tricks dazukommen könnte. Haben Sie etwas Neues auf Lager?
Ich will in diesem Jahr eine neue Version von mir zeigen, gerade im Slopestyle. Es ist nicht ein riesiger Wechsel, aber es sollen zwei, drei neue Dinge dabei sein, bei denen sich einige fragen werden: «Ah was, Andri macht jetzt solche Tricks?» Es sollen ein bisschen speziellere Tricks sein, nicht so 08/15. Aber ich bin auch da noch in der Vorbereitung. Ich muss weiterhin noch üben, repetieren, bis ich sie schliesslich auch in mein Repertoire einschliessen kann – sodass ich sie, wie im Schlaf kann.
Aber mir gefällt einfach sein Humor (in den Videos v.a.) und seine reflektierte Kommunikation, wie sie auch in diesem Interview zum Vorschein kommt. Ist glaubs eher selten beim Profi-Sportler:innen auf seinem Niveau …
Und das meine ich jetzt genau so