Marlen Reusser ist vieles. Eine 08/15-Sportlerin ist sie nicht. Die 31-jährige Bernerin ist studierte Ärztin, politisierte für die Grünen und sagte in einem watson-Interview einst, sie sei 2017 in den professionellen Radsport «hineingerutscht».
Längst ist Reusser im Peloton nicht bloss eine von vielen. Sie ist ein Star und fährt im erfolgreichsten Team der Welt. Dort ist sie einerseits eine wertvolle Helferin, andererseits gewinnt sie selber. In diesem Jahr etwa das Eintagesrennen Gent-Wevelgem, die Baskenland-Rundfahrt, die Tour de Suisse und kurz vor der WM das Abschluss-Zeitfahren der Tour de France. Die Saison 2023 ist die bislang erfolgreichste in Marlen Reussers Karriere.
Im Radsport geht es von März bis September Schlag auf Schlag. Kaum sitzt man nach einem Rennen im Teambus, folgen schon Gedanken ans nächste Ziel. Bei den Männern ist die Spezialisierung weiter fortgeschritten, bei den Frauen sind die Besten fast immer am Start – egal ob an Frühlingsklassikern über Kopfsteinpflaster oder bergigen Rundfahrten. Zeit, um im Hamsterrad zu stoppen und innezuhalten, gibt es während der Saison kaum.
Und damit fehlt auch die Zeit, um sich richtig freuen zu können. Reusser sprach nach der Aufgabe im WM-Zeitfahren vom Triumph an der Tour de Suisse und wie danach gleich die Tour de France im Fokus stand. Dabei sollte es doch darum gehen, dass man ein Ziel anstrebt, und wenn man dieses erreicht, dass man sich darüber freuen und es feiern kann. Gibt es dafür keinen Platz, wird aus Leidenschaft eher früher als später Leiden.
Reusser beschrieb, wie sie im Moment der Aufgabe selber mit ihrem Entschluss rang. Sie war sich dessen Ungewöhnlichkeit bewusst, schliesslich war sie doch in einer so guten Form an die Weltmeisterschaften nach Schottland gereist. In den Beinen steckte noch Kraft, aber nicht im Kopf. «Ich bin keine Maschine», betonte sie im SRF-Interview.
Sieht man die Bilder von strahlenden Siegerinnen, vergisst man leicht, welche Opfer Profisportler dafür bringen. Der Spitzensport ist enorm fordernd. Ohne sein Leben nicht von A bis Z und konsequent darauf auszurichten, kann man vielleicht mitfahren. Aber man gewinnt nichts. Dieses Leben ist entbehrungsreich, es erfordert sehr viel Disziplin und Wille.
«Es ist kein 9-to-5-Job, er ist viel cooler und ich schätze dieses Leben total», beteuert Reusser, «aber es kostet auch sehr viel Energie». Sie sprach von einer Pause, die sie benötige. Von etwas Abstand, damit das Feuer wieder zu lodern beginne. Eine solche Pause würde wohl sehr vielen Menschen gut tun, meinte sie, und damit hat sie bestimmt recht. Das muss nicht gleich eine dreimonatige Auszeit von der Arbeit sein – wer kann sich diesen Luxus schon leisten?
Vielleicht reicht es auch schon, einmal an einem Sonntag einfach zu faulenzen, anstatt stets ein Programm zu haben und von A nach B zu hetzen, dieses Fest zu besuchen oder jene Freunde zu treffen. JOMO statt FOMO: nicht die Angst (fear), etwas zu verpassen, sondern die Freude (joy) darüber.
Am Sonntag steht an der WM in Glasgow das Strassenrennen auf dem Programm und Experten hatten Marlen Reusser auch da auf dem Zettel. Noch weiss die Bernerin nicht, ob sie daran teilnehmen wird. So wie sie auch nicht weiss, wie lange die Pause ausfällt, die sie sich nehmen will. Sie denke, dass mit dem nötigen Abstand vom Spitzensport die Lust darauf wieder komme.
Das Regenbogentrikot für einen WM-Titel ist im Radsport eine der begehrtesten Trophäen. Marlen Reusser verkörpert es im übertragenen Sinn. Wie die Sonne und der Regen zusammenkommen, um einen Regenbogen zu formen, so erinnert uns Reusser daran, dass das Erreichen von Zielen nur im Zusammenspiel zweier Elemente gelingen kann, von Körper und Geist. Ihr Ruf nach einer Pause mahnt uns, dass es im oft hektischen Alltag Momente des Innehaltens und der Freude am Augenblick braucht.
Ich habe auch schon ein 10km Rennen nach 5Km aufgegeben. Ich war mit 19 Minuten voll in der Zeit, mein Körper hätte auch noch mitgemacht. aber mein Kopf nicht mehr. Da habe ich abgebrochen anstatt mich kaputt zu machen.
Es ist auch nicht zu kritisieren, dass sie überhaupt gestartet ist, denn manchmal kommt die mentale Stärke im Laufe des Rennen, auch wenn du dich zuvor mental nicht ready gefühlt hast.
Gute Entscheidung von ihr. Mir ist das immer der Suizid des ehemaligen D Nationalkeepers Enke im Kopf.
Ehrgeiz ist gut, übertriebener Ehrgeiz schädlich. Für Körper+Seele.
Manchmal muss man 1 Schritt zurück machen, um wieder 2 nach vorne zu gehen. Die Entscheidung verdient Respekt, wenn nicht Bewunderung