Das beste Mittel gegen Jetlag? Nein, nicht ein Dormicum einwerfen. Sondern am Tag der Ankunft in Amerika oder der Rückkehr in die Schweiz am Abend zum Hockey-Match, um das Einschlafen so weit wie möglich hinauszuschieben. In diesem ganz besonderen Fall bietet sich gar die Möglichkeit einer Übung in absoluter Neutralität und Objektivität, die sicherlich nicht schaden kann: Der Chronist übernimmt die Rolle eines Gastes, der aus Nordamerika am gleichen Tag eingeflogen ist und nach Biel reist, um den Jetlag auszugleichen.
Er kennt unser Hockey nur oberflächlich und er weiss nichts von Biels dramatischer Playoff-Geschichte. Auch die jüngsten Entwicklungen, Irrungen und Wirrungen beim SCB sind ihm nicht vertraut. Und vor allem hat er von den ersten beiden Viertelfinalbegegnungen nur die Resultate vernommen: 3:0 und 4:2 für Biel. Von der Polemik rund um Chris DiDomenico hat er noch nie gehört.
Was sieht also der neutrale und objektive Betrachter, der nicht durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit beeinflusst ist? Ein gutes, ja grandioses Spiel, das durchaus einem Vergleich mit einer guten NHL-Partie standhält. Die erste Hälfte ist geprägt durch Disziplin, Konzentration und sehr gute Spielorganisation. In der zweiten Hälfte wird daraus ein wildes Spektakel. Mit einem Torhüter «ohne Puls»: Philip Wüthrich kassiert zwei haltbare Treffer. Aber deswegen schlägt sein Herz nicht schneller: Er bleibt cool und hält in der Schlussphase den Sieg für den SCB fest.
Beim SCB zieht der Mann mit dem Flammenhelm die Fäden. Seine Genieblitze lösen die offensiven Stromschläge aus. Ja, seine spielerische Schlauheit mahnt hin und wieder sogar ein wenig (aber nur ein wenig) an Wayne Gretzky. Dominik Kahuns offensives Erwachen wäre ohne Chris DiDomenico an seiner Seite nicht möglich gewesen.
Ganz offensichtlich lässt sich DiDo so wenig provozieren wie einst der grosse Gretzky. Der objektive, neutrale Besucher sieht einen offensiven Denker und Lenker, der sich selbstlos ins Team einordnet und auch seine defensiven Pflichten nicht vergisst. Ein Blick aufs Statistikblatt bestätigt ihm diesen Eindruck: Chris DiDomenico hat von allen SCB-Stürmern die beste Plus-/Minus-Bilanz in diesem Spiel (+2) und bleibt dem Sündenbänklein fern. «Showtime DiDo.» Nicht er, sondern die Gegenspieler verlieren die Nerven.
Er wird kurz nach Spielhälfte beim fliegenden Wechsel von Noah Schneeberger zu Fall gebracht. Es wäre polemisch zu sagen, Biels Verteidiger habe den Zusammenstoss mit dem SCB-Topskorer absichtlich herbeigeführt. Eher dürfte es so sein, dass er ihm absichtlich nicht ausgewichen ist. Zu diesem Zeitpunkt führt Biel 1:0. Diese Strafe bringt Biels spielerisches Kartenhaus zum Einsturz. Es ist der Wendepunkt in diesem Spiel. Und vielleicht sogar in der Serie.
Am Ende denkt der neutrale, objektive Beobachter, der sich als Mittel gegen den Jetlag dieses Spiels ohne belastendes Vorwissen angesehen hat: Biel hat zwar verloren, führt aber in der Serie 2:1 mit Heimvorteil und hat gute Chancen auf das Vorrücken in den Halbfinal.
Aber Biel hat eine lange Geschichte und die Dämonen dieser Geschichte steigen hinter dem Jura auf. Doch auch der SCB hat eine Geschichte. In diesem Fall nur eine kurze. Aber auch sie kann sich auswirken.
Frühjahr 2019. Biel führt im Halbfinal gegen den späteren Meister SCB 2:0 und 3:2 und geht am Ende doch 3:4 unter. Frühjahr 2021: Biel scheitert in den Pre-Playoffs an den Lakers. Frühjahr 2022. Biel führt im Viertelfinal gegen die ZSC Lions 2:0 und 3:2 und geht am Ende doch 3:4 unter. Biel ist im Playoff-Zeitalter (seit 1986) noch nie Meister geworden und hat den Final noch nie erreicht. Nun ist Biel (2. Qualifikation) so gut wie noch nie. Doch die bange Frage ist: Werden sie von den Dämonen der Vergangenheit eingeholt?
Verteidiger Yannick Rathgeb ist längst vom Irrlicht zum verlässlichen defensiven Leuchtturm gereift. Er sieht keine Dämonen. Er ist Realist: «Wir haben nicht unser Spiel gespielt und zu viel geredet.» Maulhelden? Also verbal provoziert? «Das auch. Aber auch sonst haben wir zu viel diskutiert, uns vom Spiel ablenken lassen und dumme Strafen kassiert.» Die Mängel sind also erkannt. «Wir sind früher während der Qualifikation oft in ein Loch geraten. Das war diese Saison nicht mehr der Fall.» Nun werde man auch in den Playoffs nicht in ein Loch fallen.
Auch Captain Gaëtan Haas sieht kein Problem mit der Vergangenheit. Weder bei sich noch bei seinen Teamkollegen. Die Konzentration und die Spielkontrolle seien verloren gegangen. Dumme Strafen. Keine Ausreden. «Auf einmal ist aus dem Spiel ein wildes Hin und Her geworden und wir haben die Kontrolle verloren. Es ist zwar so auch möglich zu gewinnen. Aber dann sind die Chancen höchstens noch 50:50.»
Biel hat eine hochentwickelte Spielkultur. Sie basiert auf Scheibenkontrolle und schnellem Passspiel. Das grosse Biel ist ein bisschen wie Fussball-Barcelona zu den besten Zeiten. Gelingt es dem Gegner, die Schaltkreise dieses Spiels zu stören, dann ist es nur noch ein gewöhnliches Biel. Fragil und nicht playofftauglich. So ist Biel 2019 im Halbfinal und letzte Saison im Viertelfinal gescheitert. So hat Biel am Samstag 3:5 verloren. Trotz meisterlicher spielerischer Qualitäten.
Klar: Kein Spieler, der bei Sinnen ist, wird nach der ersten Niederlage im Viertelfinal bei einer 2:1-Führung in der Serie und Heimvorteil von einem Komplex oder Dämonen reden. Die Coolness und das Selbstvertrauen von Yannick Rathgeb und Gaëtan Haas wirken echt. Dieses 3:5 vermag sie noch nicht zu erschüttern. Oder doch? Sagen wir es so: Das Eis der Zuversicht, auf dem die Bieler stehen, ist etwas dünner geworden. Noch einmal dürfen sie sich nicht so provozieren und aus dem Konzept bringen lassen. Zyniker sagen, Playoffs seien die Fortsetzung des Eishockeys mit anderen Mitteln. Mit diesen anderen Mitteln ist Biel am Samstag nicht klargekommen.
Aber auch der SCB hat eine Geschichte, die sich auf dieses Viertelfinal auswirken kann. Sie reicht nicht Jahre zurück. Nur ein paar Monate. Der SCB, den der objektive und neutrale Beobachter (der nichts von der jüngsten Vergangenheit weiss) am Samstag in Biel als diszipliniert, gut organisiert, rau, selbstsicher und geradlinig erlebt, steht ebenso auf dünnem Eis. Allzu oft war diese Mannschaft in den letzten Monaten ein wilder, disziplinloser Haufen. Zuletzt am Donnerstag beim 2:4 auf eigenem Eis gegen die Bieler.
Der offensive Leitwolf Chris DiDomenico ist mit seinem spielerischen Egoismus und seinen Ausrastern (27 Strafminuten) so sehr ein Störfaktor, dass die dem Klub nahestehende und wohlgesinnte «Berner Zeitung» am Samstag von einem «Zirkus DiDo» schrieb und in einer brillanten Analyse dringend empfahl, den Kanadier für die Partie in Biel auf die Tribüne zu verbannen.
Ohne DiDo hätte der SCB in Biel nicht gewonnen. Wir müssen es wieder einmal sagen: Eishockey ist ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage, ausgeführt von Männern, die bäumig dafür bezahlt sind zu spielen und nicht, um Tag für Tag von 08:00 bis 18:00 zu arbeiten.
Auch der SCB hat also seinen Dämon, seine Spukgestalt. «Zirkus DiDo» wie am Donnerstag oder «Showtime DiDo» wie am Samstag? Das ist die Frage, die diese Serie entscheiden wird.
SCB-Manager Raeto Raffainer bringt es am Samstag in Biel nach vollbrachtem Sieg im Hinblick auf die nächste Partie am Dienstag auf den Punkt: «Wie pflegte Simon Schenk doch so schön zu sagen: Jetz wird Saubi agmacht ...» Mögen die Hockeygötter ihm beistehen und dafür sorgen, dass Chris DiDomenico der Gesalbte sein wird.
1/2
Biel spielt mit 4 Linien. Bern mit 3. Auf ein Spiel bezogen kann das gut gehen (wie gestern). Spiel eine ganze Serie (evtl. 6 oder mehr Spiele) schauen wir mal. Bern ist nicht mehr das Bern der letzten Jahre. Das ist Fakt.
Wir sehen eine spannende Playoff-Serie. Danke tschüss.