«An den Unfall habe ich keine Erinnerungen, ich war fast fünf Stunden weg», sagt Claudio Imhof. «Ich bin froh, bin ich noch da.» Manchmal hat man im Leben und im Sport das nötige Glück – und manchmal ist man zur falschen Zeit am falschen Ort.
An der Tour de Suisse 2019 nutzte Claudio Imhof seine Chance. Auf der 2. Etappe riss der Thurgauer im Dress des Schweizer Nationalteams aus, er holte sich auf dem Chuderhüsi im Emmental viele Punkte für das Bergpreistrikot und verteidigte dieses anschliessend mehrere Tage lang.
Jener 16. Juni 2019 markiert einen Höhepunkt in Imhofs Karriere. Einen Tiefpunkt, der sogar das Ende seiner Laufbahn hätte sein können, stellt der 1. März 2022 dar. An diesem Tag dreht Imhof im Velodrome in Grenchen seine Runden, um an der Aerodynamik zu feilen. Dabei kommt es zu einem fatalen Unfall, bei dem der 31-Jährige viel Blut verliert und ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet.
Wieder bei Sinnen, wollte Imhof wissen, was genau geschehen war. Er schaute sich die Aufnahme des Unfalls an, er wurde von den Überwachungskameras der Anlage festgehalten. «Ich wollte es sehen, denn ich konnte mich nicht daran erinnern», sagt Imhof. Was er sah, liess seinen Puls in die Höhe schnellen. «Dieser Unfall hätte nicht passieren müssen. Ich habe mich unheimlich aufgeregt. Ich will niemandem die Schuld geben, es ist unglücklich gelaufen. Aber mein Fehler war es sicher nicht.» Näher will Imhof nicht auf den Unfall eingehen.
Schnell kamen Gedanken auf an einen ähnlichen Unfall mit schweren Folgen in Deutschland. Die Olympiasiegerin Kristina Vogel wurde dabei vor vier Jahren querschnittgelähmt. «Wenn man das weiss, dann kann ich heilfroh darüber sein, dass ich noch laufen, denken und velofahren kann, und dass ich keine bleibenden Schäden davongetragen habe», meint Imhof.
Der 1,90 Meter grosse Ostschweizer hatte anfänglich vor allem Mühe mit dem Gleichgewicht. Dank vieler neurologischer Übungen habe er dieses Problem wieder in den Griff bekommen. Sechs Wochen lang konnte er nicht trainieren, viel Geduld war gefragt. «Ich hatte vor fünf Jahren schon einmal eine ähnliche Verletzung, deshalb wusste ich, dass weniger manchmal mehr ist.»
Noch im Spitalbett dachte er an den Moment seiner Rückkehr. Und dass er an der Tour de Suisse hoffentlich wieder «etwas zeigen» kann. Mit einer Teilnahme an der Landesrundfahrt geht für jeden Schweizer Radprofi ein Bubentraum in Erfüllung, bei Claudio Imhof war das nicht anders.
Gerne wäre er Strassenprofi geworden – so wie viele andere, mit denen der Bahnspezialist gross geworden ist, und die an seiner Seite wuchsen und die Disziplin wechselten. Stefan Küng, Stefan Bissegger, Marc Hirschi oder Mauro Schmid sind die jüngsten Beispiele, die es ins populärere Strassen-Geschäft schafften. «Das nervt mich zum Teil schon», gibt Imhof zu, «ich hätte diesen Schritt auch gerne gemacht.»
Mittlerweile habe er sich jedoch damit abgefunden, das Aushängeschild auf der Bahn und auch eine Art Ausbilder für die Jungen zu sein. «In dieser Rolle fühle ich mich recht wohl.» Auf der Bahn gewann Imhof schon mehrere Medaillen an Welt- und Europameisterschaften, mit 52,116 Kilometern ist er der Inhaber des Schweizer Stundenrekords. Er hofft, dass er im August für die Bahn-EM in München in Topform ist, im nächsten Februar steht die Heim-EM in Grenchen an und das Fernziel sind die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Doch momentan geniesst die Tour de Suisse Priorität. Zum dritten Mal nach 2019 und 2021 kann Claudio Imhof teilnehmen und sich so den Traum vom Strassenfahrer zumindest für kurze Zeit erfüllen. Er ist Mitglied des Schweizer Nationalteams, das eine Wildcard erhalten hat. Bei seinem ersten Start eroberte er das Bergtrikot, bei der zweiten Teilnahme holte er sich für einen Tag das Trikot des Führenden in der Punktewertung.
Auch 2022 will Imhof auf sich aufmerksam machen. Gedanken an frühere Erfolge würden ihm Kraft geben, betont er. «Ich schaue mir recht oft Aufnahmen von guten Rennen an, wenn ich mal einen schlechten Tag habe. Das motiviert mich, daraus kann ich Energie schöpfen.» Gerade wenn er an die Etappe mit dem Chuderhüsi denke, werde er stets emotional. Im Training fahre er oft dort durch und denke dabei an den grossen Tag vor drei Jahren zurück. «Es ist natürlich das Ziel, so etwas wieder erleben zu können.»
Viele Fragezeichen....