Jan Christen lächelt und rührt in seinem Cappuccino. Eben ist er im «Home Barista Shop» in Aarau eingetroffen. Für den KV-Lehrling des Asana Spitals Leuggern so etwas wie sein Stammlokal in der Aargauer Kantonshauptstadt. Ganz in der Nähe besucht er zweimal pro Woche die Berufsschule.
Jetzt ist Pause. Einer der wenigen Momente, in denen der 17-Jährige mal ein wenig durchatmen kann. Denn das Leben des riesigen Talents aus dem Aargauer Radsport-Mekka Gippingen gleicht seit geraumer Zeit einem Wirbelsturm.
Christen sorgte im vergangenen Jahr für Schlagzeilen, weil er bei den Junioren gleichzeitig Schweizer Meister in den Disziplinen Bahn, Radquer, Mountainbike und Zeitfahren wurde. Und vor wenigen Monaten, als er sich in den USA den Quer-WM-Titel bei den Junioren auf beeindruckende Art und Weise sicherte.
Schnell war in der Szene klar, dass hier ein ausserordentlicher Radsportler heranwächst. Und entsprechend ging es nicht lange, bis die ersten Verantwortlichen der grossen Radsportteams auf ihn aufmerksam wurden. Einer bemühte sich recht schnell, recht intensiv um Jan Christen: Der ehemalige Schweizer Radprofi Mauro Gianetti, jetzt CEO des UAE-Emirates-Teams. Jenem Team, in welchem unter anderem der zweifache Tour-de-France-Gewinner Tadej Pogacar fährt und wo mit Marc Hirschi auch eine der grössten Schweizer Profi-Hoffnungen unter Vertrag steht.
An der letzten Strassen-WM im vergangenen September in Flandern wurden die Kontakte intensiviert. Als Ende 2021 Christens Wechsel in das von Tadej Pogacar alimentierte «Pogi's Team» bekannt wurde, da konnte man erahnen, wohin die Reise führt. Zumal der Teenager im Januar auch noch eine Einladung ins UAE-Trainingslager in Spanien erhielt und dort ein paar Tage lang bei den Profis mittrainieren durfte.
Jetzt steht also fest, dass Jan Christen ab der kommenden Saison bei UAE unter Vertrag steht. Und das gleich bis 2027. Am Rande der Tour de Romandie wurde der Kontrakt im Beisein der Eltern, Vater Sepp und Mutter Jolanda, seinem Trainer Bruno Diethelm, Mauro Gianetti und vom höchsten Vertreter des Sponsors «Emirates» Ende April signiert. «Meine Familie und ich sind unglaublich stolz, dass ich bei einem der besten Teams der Welt diesen Vertrag unterschreiben durfte», erzählt Jan Christen.
Dass ein Profiteam einen derart jungen Fahrer derart langfristig an sich bindet, ist äusserst ungewöhnlich und ein klares Signal, dass man beim Spitzenteam einerseits grosse Stücke auf das Schweizer Talent hält, ihm andererseits aber auch die nötige Zeit geben will, sich zu entwickeln.
Mauro Gianetti unterstreicht: «Jan ist ein riesiges Talent und wir glauben, dass er die richtige Einstellung und Qualitäten hat, um sehr gut in unser Team zu passen. Er wird sich zunächst auf den Abschluss seiner Lehre konzentrieren und schrittweise in den Profi-Radsport integriert. Wir haben keinen festen Zeitrahmen für diese Schritte und wir werden sie nicht überstürzen. Jan ist noch sehr jung und wir werden ihm alle Hilfe geben, die er braucht, und den Druck von seinen jungen Schultern nehmen.»
Apropos Druck: Wie geht man als 17-jähriger Lehrling damit um, wenn einem eines der besten Radteams der Welt quasi den roten Teppich ausrollt? «Momentan ist das Ganze für mich einfach ein riesiger Motivationsfaktor und gibt mir sehr viel Energie. Auf der anderen Seite bin ich nun in jedem Rennen der Mann, den es zu schlagen gilt. Das ist für mich nicht einfach. Und es wird nun, da ich diesen Vertrag im Sack habe, sicher nicht leichter, da die Gegner noch mehr auf mich schauen werden und alle erwarten, dass ich jedes Rennen gewinne», ist sich Christen der speziellen Nebenwirkungen seines Deals bewusst.
Aber eben: UAE will das Mega-Talent sanft an den Profi-Radsport heranführen. Im laufenden Jahr heisst das: «Ich muss keine Rennen gewinnen. Das Team will eine Entwicklung sehen. Und dann schauen wir, ob ich reif für die World Tour bin.» Noch ist nicht klar, ob Jan Christen bereits ab kommenden Jahr für seinen neuen Arbeitgeber auf dem höchsten Level fährt oder ob er quasi an ein unterklassiges Team ausgeliehen wird, um auf niedrigerer Stufe erste Renn-Erfahrungen sammeln zu können.
Dies vor allem im Zusammenhang mit seiner Lehre, die er auf jeden Fall beenden möchte. Im Sommer 2023 endet die Schule, erst 2024 dann die Ausbildung. So lange der Gippinger die Schulbank drücken und arbeiten muss, wird er punkto Training nicht annähernd auf das Volumen eines Profis kommen. Statt 25 bis 30 Stunden pro Woche sitzt Christen etwa einen Drittel davon im Sattel. Dazu kommt, dass er weiterhin in möglichst vielen Disziplinen an den Start gehen möchte. «Das ist auch im Sinne des Teams», betont der Aargauer.
Und was wäre nun sein Wunsch? Gleich im kommenden Jahr auf höchster Stufe einsteigen oder es doch lieber vorsichtig angehen lassen? Der 17-Jährige sagt: «Ich würde mir die World-Tour zutrauen. Ich denke schon, dass ich das Zeugs dazu habe, mich im Profifeld zu behaupten. Da ich keinen Druck habe, kann ich zuerst einfach mal Erfahrungen sammeln und mich in den Rennen einleben. Das ist schon sehr verlockend.» Aber er betont auch: «Am Ende muss es für mich ganz einfach im Paket am besten passen, sowohl punkto Sport, als auch punkto Lehre.»
Vermutlich ist ein World-Tour-Einstieg 2024, wenn die schulische Belastung wegfällt, das realistische Szenario. Und Christen gibt zu bedenken, dass bei aller Betonung auf den fehlenden Leistungsdruck eben doch viele Augen auf ihn gerichtet sein würden. «Schlussendlich wird man trotzdem mit einem Remco Evenepoel verglichen. Der war auch sofort nach seinem Übertritt zu den Profis erfolgreich.» In der Tat: Der Belgische Jungstar gab 2019 im Alter von 19 Jahren sein World-Tour-Debüt bei der Clasica San Sebastian – und entschied das Rennen gleich für sich.
Im Dezember wird Jan Christen für ein erstes Team-Meeting nach Dubai reisen. Dann geht das grosse Abenteuer los. Beim Gedanken daran muss er lächeln.