Als sich im März 2020 die Corona-Pandemie nicht mehr leugnen liess, crashten die Aktienbörsen ein paar Tage lang. Doch dann reagierten die Zentralbanken und pumpten Geld im grossen Stil in die Märkte. Die Kur wirkte. Die Finanzmärkte erholten sich nicht nur, sie eilten erneut von Rekord zu Rekord.
Die wundersame Auferstehung im Frühling 2020 überzeugte auch die letzten Pessimisten. «Buy the dip» – Kaufen, wenn die Kurse fallen – wurde zum allerseits akzeptierten Motto. Doch nun kippt die Stimmung. Die Börsen-Bären – so nennt man die Pessimisten – wagen sich wieder aus ihrer Höhle. Ist es diesmal anders?
Die Pessimisten zweifeln daran, dass die Inflation vorübergehend sei. «Wir sehen es überall. Ikea hat soeben seine Preise um 9 Prozent erhöht, Nahrungsmittel werden teurer, auch Transportkosten, Rohstoffe, Metalle… Zudem steigen auch die Zinsen», erklärt etwa Nicolai Tangen, der Chef von Norwegens Ölfonds gegenüber der «Financial Times». Sein Wort hat Gewicht, ist doch sein Fonds der grösste der Welt.
Gerne weisen die Bären daraufhin, dass mittlerweile selbst die US-Notenbank, die Fed, nicht mehr von einer «vorübergehenden Inflation» spricht. Stattdessen geben sich die Experten überzeugt, dass die wichtigste Zentralbank der Welt die Leitzinsen im laufenden Jahr nicht nur drei-, sondern viermal erhöhen wird, und dass die erste dieser Erhöhung nicht ein Viertel-, sondern ein halbes Prozent betragen könnte.
«In diesem Umfeld sollte man sich hüten, blind dem Buy-the-dip-Reflex zu folgen», erklärt Rob Sharpe gegenüber der «Financial Times». Er ist CEO von T. Rowe Price, einem Fonds, der 1,7 Billionen Dollar Vermögen verwaltet.
Ins gleiche Horn stösst auch der ehemalige Anleihen-König Bill Gross. «Die Buy-the-dip-Mentalität ist von den Märkten vernichtet worden», stellt er fest.
Nicolai Tangen weist auch daraufhin, dass nach den vielen fetten nun ein paar magere Börsenjahre folgen könnten. «Nicht nur Aktien, sondern auch die Anleihen werden leiden», sagt er.
Angesichts der hartnäckigen Inflation werden die Investoren auch nicht darauf zählen können, dass die Fed sie in jedem Fall mit einem Greenspan-Put erlösen wird. Das nach dem ehemaligen Fed-Präsidenten Alan Greenspan benannten Phänomen bedeutet, dass die US-Notenbank die geldpolitischen Rettungsringe auswirft, sobald die Investoren zu ertrinken drohen.
Putins Kriegsspiele an der ukrainischen Grenze und die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China sind ebenfalls nicht dazu angetan, die Nerven der Investoren zu beruhigen. Müssen wir uns also auf einen Bärenmarkt einstellen, eine längere Phase von fallenden Kursen?
Nein, sagen die Bullen. So nennt man die Optimisten. Auch bei ihnen finden sich prominente Namen, etwa Bill Ackman, der Chef des Hedgefonds Pershing Square. Er hat soeben verkündet, er habe 3,1 Millionen Netflix-Aktien erworben, und zwar gerade, weil die Papiere des Streamingdienst wegen schlechten Nachrichten massiv eingeknickt seien. «Viele unserer erfolgreichsten Investitionen haben wir getätigt, wenn andere sie kurzfristig fallengelassen haben», erklärte Ackman dazu.
Unterstützt wird er von Jonathan Gray, dem Präsident von Blackstone. Er weist darauf hin, dass sich «die Kurse am Nasdaq teilweise 40 Prozent unter ihrem Höchststand von letztem Jahr befinden» und spricht daher von Kaufgelegenheiten.
Besonders scharf wird derzeit Cathie Wood von ARK Investment LLC beobachtet. Lange war sie die ungekrönte Königin der Tech-Investoren. Doch in den vergangenen Wochen hat ihr ARK Innovation ETF 27 Prozent an Wert eingebüsst, über das ganze Jahr gesehen sogar rund 50 Prozent. Wood hat sich bisher davon nicht beeindrucken lassen. Im Gegenteil, es ist ihr gelungen, 168 Millionen Dollar frisches Geld aufzutreiben. Sie verwaltet nun gegen 12 Milliarden Dollar, die sie in Tech-Papiere investiert.
Auch die Krypto-Gemeinde hat ein Auge auf Cathie Wood. Inzwischen marschieren die Kurse von Bitcoin, Ether & Co. mehr oder weniger im Gleichschritt mit den Tech-Aktien. Wie diese haben auch die Kryptos seit dem Höhepunkt im vergangenen November fast die Hälfte ihres Werts eingebüsst.
Im Krypto-Crash sind rund 1,3 Billionen Dollar vernichtet worden. In der «New York Times» vergleicht Nobelpreisträger Paul Krugman diesen Kurssturz bereits mit der Subprime-Krise von 2007/2008. Wie damals seien von diesem Crash vor allem Menschen betroffen, die es sich nicht leisten können, stellt Krugman fest. Er sehe deshalb Anzeichen, wonach die «Risiken der Kryptos unverhältnismässig auf Leute fallen, die nicht wissen, was sie tun und schlecht gerüstet sind, die Verluste in den Griff zu bekommen».
Krugman bezieht sich dabei auf eine Studie, die aufzeigt, dass die amerikanischen Krypto-Investoren nur bedingt mit den üblichen Anlegern verglichen werden können: 44 Prozent von ihnen sind nicht weiss, und 55 Prozent haben keinen College-Abschluss. Das erinnert tatsächlich an die Hypotheken, die vor der Finanzkrise Menschen angedreht wurden, die sie nie hätten kaufen sollen.
Die Krypto-Gemeinde pflegt, Einwände von nicht mehr ganz jungen Kritikern mit einem «Okay Boomer» vom Tisch zu wischen. «Es mag ja sein, dass diejenigen unter uns, die in den Kryptowährungen keinen Sinn ausser Geldwaschen und Steuerbetrug erkennen mögen, überfordert sind», räumt Krugman ein.
So gesehen ist es also durchaus möglich, dass die Kryptos einmal mehr wie die Phoenix aus der Asche auferstehen werden. Eine vernünftige Einschätzung dazu ist schlicht nicht möglich. Wie kann man rational etwas beurteilen, das seinem Wesen nach irrational ist?