Wie wir die bunte Welt sehen, ist für uns selbstverständlich. Wir sind – von jenen abgesehen, die von Farbenfehlsichtigkeit betroffen sind – sogenannte Trichromaten, die neben den lichtempfindlichen Stäbchen drei verschiedene Arten von Zapfen besitzen. Diese Farbrezeptoren unterscheiden sich in ihrer Empfindlichkeit im roten, blauen und grünen Spektrum. Die Wahrnehmung von Farben ist aber bei verschiedenen Tierarten sehr unterschiedlich. Während die meisten Säugetiere Dichromaten sind – sie besitzen nur zwei Arten von Zapfen für Grün und Blau –, sind Vögel sowie viele Reptilien, Fische und Insekten Tetrachromaten, die zusätzlich einen UV-Rezeptor besitzen. Wie viele Farben tatsächlich wahrgenommen und unterschieden werden können, hängt freilich von der weiteren Verarbeitung im Gehirn ab.
Die Farbwahrnehmung hat sich im Lauf der Evolution vermutlich mehrmals entwickelt. Die frühen Säugetiere, die wahrscheinlich nachtaktiv waren, büssten zwei der ursprünglich vier Farbrezeptoren ein, doch mit dem Übergang zur Tagaktivität vor 30 bis 40 Millionen Jahren entstand bei den Primaten der Alten Welt durch Genduplikation ein dritter Zapfentyp. Diese Entwicklung ging wahrscheinlich zulasten des Geruchssinns, da bei jenen Primaten, die nach wie vor über einen guten Geruchssinn verfügen, der Farbsinn eingeschränkt ist.
Die Ergebnisse einer neuen Studie, die im Fachjournal «Proceedings of the National Academy of Sciences» (PNAS) erschienen ist, deuten nun darauf hin, dass Menschen eine grössere Bandbreite an Blautönen wahrnehmen können als Affen. Diese Formulierung ist allerdings ein wenig irreführend, denn der Homo sapiens gehört gemäss der biologischen Taxonomie selbst zu den Menschenaffen, zusammen mit Orang-Utans, Gorillas und unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen.
Die Vorfahren der heutigen Menschenaffen trennten sich vor rund 25 Millionen Jahren von der Abstammungslinie, die zu den anderen heutigen Altweltaffen führte. Noch weiter zurück in der Stammesgeschichte der Primaten – etwa 46 Millionen Jahre – liegt die Aufspaltung der Affen in Altweltaffen (Catarrhini) und Neuweltaffen (Platyrrhini), die auch Schmalnasenaffen beziehungsweise Breitnasenaffen genannt werden.
Das Forschungsteam – Yeon Jin Kim, Dennis Dacey, Orin Packer von der University of Washington School of Medicine in Seattle (USA), Paul Martin und Ulrike Grünert von der University of Sydney (Australien) und Andreas Pollreisz von der Medizinischen Universität Wien – untersuchte die Nervenzellen der Netzhaut und deren Verschaltungen beim Menschen und je einem Vertreter der Altweltaffen (Makake) und der Neuweltaffen (Weissbüscheläffchen). Ihr Ziel bestand darin, die für das Farbsehen verantwortliche neuronale Verdrahtung zwischen Menschen und Affen zu vergleichen.
Mittels einer neuen dreidimensionalen Elektronenmikroskopie-Technik untersuchten die Wissenschaftler die feinen Nervenverschaltungen der Netzhaut. Sie konzentrierten sich dabei auf jenen kleinen Teil der Retina, der dicht mit Zapfen besetzt ist und für das scharfe Sehen und das Farbensehen verantwortlich ist – die Sehgrube oder Fovea centralis. Die von den verschiedenen Zapfentypen erhaltenen Farbinformationen werden durch neuronale Schaltkreise verarbeitet, welche die Daten interpretieren.
Die Analyse ergab, dass ein spezifischer kurzwelliger (blauempfindlicher) Zapfenschaltkreis, der beim Menschen vorkommt, bei Weissbüscheläffchen nicht vorhanden ist. Bei Makaken existiert er zwar, unterscheidet sich aber von jenem des Menschen. Es zeigte sich zudem, dass es in den menschlichen Nervenzellverbindungen, die mit dem Farbsehen zu tun haben, Merkmale gibt, die aufgrund früherer Untersuchungen bei nicht-menschlichen Primaten unerwartet waren.
Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich beim Menschen möglicherweise besondere neuronale Verknüpfungen in der Netzhaut entwickelt haben, die das Farbsehen verbessern. Dies könnte das Ergebnis von evolutionären Anpassungen sein, die phylogenetisch erst vor relativ kurzer Zeit erfolgt sind. Die Studienautoren vermuten, dass diese Unterschiede in den visuellen Schaltkreisen der Säugetiere zumindest zum Teil durch ihre Anpassung an bestimmte ökologische Nischen beeinflusst werden.
So leben die Weissbüscheläffchen in Bäumen, während der moderne Mensch an ein Leben auf dem Boden angepasst ist. Die Anpassung an unterschiedliche Lebensräume könnte einen Selektionsdruck für bestimmte Farbseh-Schaltkreise ausgeübt haben; beispielsweise dürfte die Fähigkeit, reife Früchte im wechselnden Licht des Waldes zu erkennen, einen Selektionsvorteil für bestimmte neuronale Verdrahtungen ergeben haben. Die genauen Auswirkungen von Umwelt und Verhalten auf das Farbsehen müssen freilich noch untersucht werden. (dhr)