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Von «Mutter Heimat» zu «Mutter Ukraine»: Ukrainische Identität im Wandel

«Mutter Ukraine» statt «Mutter Heimat» – die ukrainische Identität ist nicht russisch

13.08.2023, 09:4914.08.2023, 10:54
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62 Meter hoch ragt das kolossale Bauwerk in den Himmel über Kiew: Die Mutter-Heimat-Statue ist das Wahrzeichen Kiews und die höchste Statue Europas. Das 1981 eingeweihte Denkmal erinnert an den Sieg der sowjetischen Truppen über die deutschen Invasoren im Zweiten Weltkrieg. Auf dem Schild der gigantischen Frauenfigur prangt das sowjetische Wappen – bis vor Kurzem jedenfalls.

Mutter-Heimat-Statue in Kiew, alter Zustand mit Sowjetwappen (2020)
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=93881482
Die «Mutter Heimat»-Statue in Kiew, hier noch mit Sowjetwappen. Bild: Wikimedia/AlexanderVovck

Anfang August wurde das Emblem nämlich entfernt und durch das ukrainische Staatswappen ersetzt. Zudem soll auch der Name des Denkmals geändert werden: Statt «Mutter Heimat» soll es künftig «Mutter Ukraine» heissen. Der Austausch der Wappen erfolgte nach einer Umfrage im Sommer letzten Jahres, in der sich die grosse Mehrheit der Befragten dafür ausgesprochen hatte.

Die Entfernung des sowjetischen Wappens ist Teil eines seit Jahren laufenden staatlichen Programms, das die Ukraine von Relikten der Sowjetherrschaft säubern soll. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 hat diese sogenannte Dekommunisierung allerdings neuen Schub erhalten. Die Entfernung sowjetischer Denkmäler aus dem öffentlichen Raum ist – ähnlich wie die Bestrebung, russische Kultur und Sprache in der Ukraine zurückzudrängen – Ausdruck einer verstärkten Betonung der ukrainischen Identität.

Konzeptbild für die Ersetzung des Wappens auf der Mutter-Heimat-Statue in Kiew
https://de.wikipedia.org/wiki/Mutter-Heimat-Statue_(Kiew)#/media/Datei:Motherland_Monument_proposal_(Kyiv).png
Konzeptbild für die Ersetzung des sowjetischen Wappens (l.) durch das ukrainische.Bild: Wikimedia/DIAM – State Inspection of Architecture and Urban Planning (Government of Ukraine)

Was aber bedeutet «ukrainische Identität»? Diese Frage ist keineswegs einfach zu beantworten – wie ja bereits die Frage, was denn allgemein unter einer «nationalen Identität» zu verstehen sei, keine einfache ist. In Krisen- und Kriegszeiten gewinnen Fragen der Identität in aller Regel noch mehr an Schärfe, auch weil viele Leute eher darin Halt suchen und vermehrt ein Bedürfnis verspüren, sich vom realen oder vermeintlichen Feind abzugrenzen. Was nationale Identität im Fall der Ukraine bedeuten könnte, soll hier in Stichworten schlaglichtartig beleuchtet werden.

Was ist das, «nationale Identität»?

Zuerst aber: Was soll man sich unter diesem Begriff «nationale Identität» überhaupt vorstellen? Wir alle haben eine mehr oder weniger ausgeprägte und stringente Vorstellung davon, wer wir sind. Nur selten wird uns bewusst, dass diese Vorstellung im Grunde konstruiert ist. Dies ist auch mit kollektiven Identitäten der Fall, insbesondere mit nationalen Identitäten, die erst mit der Ausbildung des Konzepts der Nation seit dem 18. Jahrhundert geschaffen wurden. Eine nationale Identität – hier nur im Ansatz skizziert – umfasst als «imaginierte Gemeinschaft» ein Bündel von Überzeugungen, Erinnerungen und Verhaltensweisen, die in ihrer Mehrzahl von einer Gruppe von Individuen geteilt werden, die sich untereinander nicht persönlich kennen, aber dadurch als Nation verbunden werden.

Diese verbindenden Elemente fördern ein Bewusstsein oder Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb einer Gemeinschaft, ein «Wir-Gefühl». Dessen Bezugspunkte können eine gemeinsame Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte darstellen. Gleichwohl gibt es keine natürlich gegebenen Eigenschaften, die sich einer Nation zuschreiben lassen. Als wirkungsmächtig erweisen sich oft historische Mythen, die eine gemeinsame Abstammung und eine besondere Verbundenheit mit dem Territorium untermauern sollen. Eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung einer nationalen Identität spielen oft auch Symbole. Dies können geschichtsträchtige Orte sein – etwa das Rütli in der Schweiz –, aber auch nationale Embleme und Wappen. Stark symbolisch aufgeladen sind auch Denkmäler – wie eben die «Mutter Ukraine».

Umstrittener Ursprung: Die Rus

Einen der wichtigsten Bezugspunkte für die nationale Identität der Ukrainer – aber auch der Russen – stellt die Rus dar: Sowohl die ukrainische wie die russische Geschichtsschreibung sehen – allerdings in unterschiedlicher Weise – die Kiewer Rus als gemeinsamen Ausgangspunkt für die Staatswerdung der ostslawischen Völkerschaften. Dieses Reich mit Kiew als Sitz des Grossfürsten erstreckte sich von den Karpaten im Südwesten bis zum Ladogasee im Norden und zum Mittellauf der Wolga im Osten. Es entstand im Frühmittelalter wohl unter skandinavischem Einfluss und wurde im 10. Jahrhundert von Konstantinopel her christianisiert.

Kiewer Rus um das Jahr 1000
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Die Kiewer Rus um das Jahr 1000.Karte: Wikimedia

Es handelte sich jedoch nicht um ein monolithisches Staatsgebilde, sondern um einen Verbund verschiedener Fürstentümer, die sich untereinander nicht selten im Konflikt befanden. Zudem war es ein multiethnischer Staat; neben der ostslawischen Bevölkerung lebten dort auch finno-ugrische, baltische und turksprachige Stämme. Hinzu kamen Griechen und Südslawen, die in der politischen und kirchlichen Elite eine bedeutende Rolle spielten. Die herrschende Dynastie skandinavischer Herkunft – die Rurikiden – wurde freilich schnell slawisiert.

Nachdem «Rus» sich als Bezeichnung des Herrschaftsbereiches der Rurikiden etabliert hatte, wurden die Bewohner ebenfalls mit «Rus» – oder «rusiny» – bezeichnet. Dies geschah unabhängig von ihrer Stammeszugehörigkeit, weshalb die Bezeichnung nicht als Beleg dafür dienen kann, dass sich die Bevölkerung als einheitliches Volk verstanden hat. Paradox mutet aus heutiger Warte an, dass der Begriff «Russland» (Russia) in der Frühen Neuzeit allgemein für die Gebiete der heutigen Ukraine und Belarus' stand, während das heutige Russland meistens «Moskowien» (Moscovia) genannt und damit von den ostslawischen Gebieten Polen-Litauens unterschieden wurde. Das gängige Ethnonym für die Ukrainer («Ruthenen», «Kleinrussen») ging noch bis ins 20. Jahrhundert auf die Rus zurück.

Die besonders in der russischen Geschichtsschreibung vertretene Auffassung, wonach sich in der Kiewer Rus ein einheitliches, sogenannt altrussisches Volk bildete, aus dem sich dann die Russen (Grossrussen), die Ukrainer (Kleinrussen) und Belarussen (Weissrussen) entwickelten, vertritt auch der russische Präsident Wladimir Putin – etwa in seinem Aufsatz «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer». Sie ist indes kaum haltbar: Die Idee eines einheitlichen Volkes ist nur schon deshalb eine Rückprojektion moderner Vorstellungen, weil sich ethnische Gruppen im modernen Sinn erst im 15. Jahrhundert zu formieren begannen. Laut dem Schweizer Historiker Andreas Kappeler gehen neue Publikationen davon aus, dass die Vorstellung eines einheitlichen Volkes in der Kiewer Rus sich erst im 17. Jahrhundert herauskristallisierte und später – im 19. Jahrhundert – in der russischen Geschichtsschreibung verfestigt wurde.

Im Gegensatz dazu vereinnahmt die moderne ukrainische Geschichtsschreibung das Erbe der Kiewer Rus vornehmlich für die Ukraine. Das hauptsächliche Argument dafür ist die Tatsache, dass das Gebiet um Kiew zu Beginn und für lange Zeit deren Kernland war. Die ersten ukrainischen Historiker im 18. und 19. Jahrhundert kritisierten lediglich den auf Moskau zentrierten Blickwinkel, wenn es um das politische und kulturelle Erbe der Kiewer Rus ging. Tatsächlich entstand das Moskauer Grossfürstentum erst im 13. Jahrhundert und erlangte seine Vormachtstellung später.

Spätere Historiker stellten dagegen die Ukrainer als einzig legitime Erben der Kiewer Rus dar. Zu ihnen gehörte etwa Mychajlo Hruschewskyj, der die Auffassung eines einheitlichen ostslawischen (will heissen: russischen) Stromes der Geschichte verwarf und ihr die Idee einer getrennten Entwicklung der Russen und Ukrainer entgegenstellte. Diese Historiker sahen als Erbe der Kiewer Staatlichkeit nicht das Moskauer Grossfürstentum, sondern das im Westen der heutigen Ukraine gelegene Fürstentum Galizien-Wolhynien. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat sich diese Tendenz verstärkt und die Kiewer Rus wird von vielen Historikern als ukrainischer Staat dargestellt.

Die Auseinandersetzung zwischen den russischen und ukrainischen Historikern um das Erbe der Kiewer Rus ist mithin stark von nationalistischen Gesichtspunkten geprägt und weit eher eine politische als eine wissenschaftliche Frage.

Die Kosaken und der Vertrag von Perejaslaw

Die Kiewer Rus ging im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts unter. Das mongolische Khanat der Goldenen Horde beherrschte danach weite Teile der Rus; die unterworfenen Fürstentümer wurden tributpflichtig. Seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts drang aber das Grossfürstentum Litauen gegen Osten vor und eroberte schrittweise grosse Gebiete der Goldenen Horde bis hin zum Schwarzen Meer. Litauen, das in der Folge im Osten vom Grossfürstentum Moskau und im Süden vom Khanat der Krim und danach vom Osmanischen Reich bedrängt wurde, lehnte sich stärker an Polen an, was 1569 zur Verbindung der beiden Staaten zum Polnisch-Litauischen Doppelstaat führte. Die litauischen Gebiete in der heutigen Ukraine fielen dabei der polnischen Krone zu.

Die polnische Herrschaft erwies sich jedoch als weniger liberal als die litauische; die wirtschaftliche und religiöse Unterdrückung der orthodoxen Bevölkerung durch polnische adlige Landbesitzer nahm zu. Die wachsende Unzufriedenheit entlud sich 1648 im Chmelnyzkyj-Aufstand, der von den Saporoger Kosaken angeführt wurde. Die Kosaken waren Gemeinschaften freier Reiterverbände, die in den südlichen Steppengebieten siedelten und sich als Wehrbauern gegen die Überfälle der Krimtataren verteidigen mussten. Der zunächst erfolgreiche Aufstand wurde von grausamen Massakern an Polen, Juden und römisch-katholischen Geistlichen begleitet.

Ilja Repin: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief (1891)
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Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief, Gemälde von Ilja Repin (1891).Bild: Wikimedia

Zugleich entstand das Kosaken-Hetmanat, das weite Teile der heutigen Ukraine umfasste. Als die polnische Armee die Oberhand zu gewinnen drohte, stellte sich das Hetmanat 1654 im Vertrag von Perejaslaw unter den Schutz des Zaren. Das Zarenreich erklärte darauf Polen-Litauen den Krieg, der mit der Aufteilung der Gebiete der heutigen Ukraine entlang des Dnjepr endete. In den bei Polen verbleibenden Gebieten rechts des Dnjepr wurde das Hetmanat aufgelöst; im Osten bestand es als autonomes Herrschaftsgebiet noch bis 1775.

In der ukrainischen Geschichtsschreibung wird grosser Wert darauf gelegt, das quasistaatliche Kosaken-Hetmanat als «Staat» zu bezeichnen. Die ukrainischen Kosaken gelten, wie der Historiker Andreas Kappeler in seinem Buch «Die Kosaken» schreibt, «als wichtigste Träger einer frühneuzeitlichen ukrainischen Nation». Dies bestätigt Mykola Riabchuk, Forschungsleiter an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. In einem Interview mit «Le Monde» stellte er 2002 fest, mit der Gründung des Kosakenstaates im 17. Jahrhundert habe die Ukraine eine Phase der Autonomie erlebt. «Dieser Moment ist für die Entstehung der ukrainischen Identität von grundlegender Bedeutung, da er ein Streben nach Freiheit etabliert, das durch die Figur des Kosaken als Freiheitskämpfer verkörpert wird – ein beliebtes Thema in der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts.»

Historische Quellen würden belegen, so Riabchuk, wie die Kosaken damals zu Trägern einer ukrainischen Eigenständigkeit wurden. Diese sei zunächst ausschliesslich in Abgrenzung zu allem Polnischen definiert gewesen, doch im 17. Jahrhundert habe sie die Grundlage «für ein eigenständig gedachtes Ukrainertum» gelegt.

Die staatsrechtliche Bedeutung des Vertrags von Perejaslaw, bei dem die Kosaken dem Zaren einen Treueeid schworen, um seinen Schutz zu erhalten, wird in der ukrainischen und russischen Geschichtsschreibung unterschiedlich bewertet. Dies erstaunt nicht, denn mit ihm gelangten erstmals heute zur Ukraine gehörende Gebiete unter die Herrschaft des Kremls. Die ukrainische Seite sieht im Schwur von Perejaslaw ein temporäres Militärbündnis, einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, der zwischen zwei gleichberechtigten Partnern geschlossen wurde. Der Zar, der sich fortan «Herrscher von ganz Gross- und Kleinrussland» nannte, sei mit dem Anschluss der neuen Gebiete an Russland vertragsbrüchig geworden. Die russische Seite hingegen feiert den Vertrag als «Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland».

Die Rada von Perejaslaw auf einer sowjetischen Briefmarke (1954)
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Der Treueschwur von Perejaslaw auf einer sowjetischen Briefmarke (1954). Bild: Wikimedia

In der Sowjetunion wurde der 300. Jahrestag des Vertrags mit grossem Pomp gefeiert. Zu diesem Anlass fasste der Oberste Sowjet auch einen folgenreichen Beschluss: Die Halbinsel Krim wurde der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen, weshalb sie nach der Unabhängigkeit der Ukraine bei dieser verblieb.

Kriegsverbrecher oder Freiheitskämpfer: Stepan Bandera

Galizien – im westlichen, bei Polen verbliebenen Teil der Ukraine gelegen – gelangte nach den Teilungen Polens zur vergleichsweise liberalen Habsburgermonarchie. Besonders hier formierte sich im 19. Jahrhundert ein ukrainischer Nationalismus, der sich teilweise radikalisierte und zum Teil völkisches Gedankengut aus Deutschland und Österreich übernahm. Wie die deutsche Historikerin Kerstin Jobst im «Spiegel» feststellte: «Es wurden krude Theorien aufgestellt, wonach Ukrainer keine Slawen, sondern Nachfahren von Wikingern und anderen ‹arischen Völkern› seien. Man leitete daraus ab, ‹rassisch› höherwertig zu sein. Daran hat der radikale ukrainische Nationalismus angedockt.»

In der Zwischenkriegszeit, als Galizien wieder zum neu erstandenen Polen gehörte, wurde 1929 in Wien die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gegründet, die – wie zahlreiche andere nationalistische Bewegungen in dieser Zeit – stark von faschistischen Strömungen beeinflusst war. Obwohl die Organisation sich selbst nicht als faschistisch bezeichnete, war sie zweifellos eine ukrainische Spielart des Faschismus. Wie der Berliner Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe es formuliert: «(...) die inneren Diskurse und auch die Kontakte zu Mussolini, zu Hitlerdeutschland, die machen klar, dass die OUN den transnationalen Faschismus rezipiert hat, erst aus Italien, dann aus Deutschland und dann ihren eigenen ukrainischen Faschismus erfunden hat.»

Anführer des rechtsextremen, antisemitischen Flügels der OUN – der sogenannten OUN-B – war Stepan Bandera, der aus der Westukraine stammte und sich dort radikalisiert hatte. Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion arrangierte er sich mit den Nazis und proklamierte einen unabhängigen ukrainischen Staat – was die Deutschen nicht goutierten und ihn in Haft nahmen. Während der deutschen Besatzung beteiligte sich die OUN-B an der massenweisen Ermordung von Juden und Polen, kämpfte aber zunehmend auch gegen die deutschen Besatzer. Nach Kriegsende kämpften sie noch ein paar Jahre als Partisanen gegen die Rote Armee.

Rebellengruppe in den Karpaten, 1946.
Partisanen in den Karpaten, 1946.Bild: Ukrainisches Institut für Nationale Erinnerung

Bandera, der 1959 im westdeutschen Exil von einem sowjetischen Agenten ermordet wurde, ist bis heute eine kontroverse Figur, die in Teilen der Ukraine als Freiheitskämpfer verehrt wird, während er für andere ein Kriegsverbrecher ist. Eine direkte Beteiligung an den Massakern ist ihm nicht nachzuweisen, doch er war massgeblich daran beteiligt, das ideologische Klima zu schaffen, das zu diesen Verbrechen führte.

Während Bandera zu Sowjetzeiten nur heimlich verehrt wurde, kam es nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 zu einem regelrechten Bandera-Kult in der Westukraine. Mittlerweile gibt es dort vier Bandera-Museen, zahlreiche Denkmäler und noch weit mehr Bandera-Strassen. Wie kontrovers der OUN-Anführer in der Ukraine betrachtet wird, zeigt sich etwa daran, dass ihm Präsident Wiktor Juschtschenko 2010 den Titel «Held der Ukraine» verlieh – und dessen Nachfolger, Wiktor Janukowitsch, Bandera diesen Titel umgehend wieder aberkannte. Im Zuge der Maidan-Proteste 2014 griff die Bandera-Verehrung dann aber auch auf Kiew über.

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Anhänger der rechtsradikalen Parteien Swoboda und Prawyj Sektor begehen am 1. Januar 2015 in Kiew den 106. Geburtstag Banderas. Bild: EPA/EPA

Der Kampf um die symbolträchtigen Denkmäler verschärfte sich ab 2013, als Parteimitglieder der rechtsextremen Allukrainischen Vereinigung Swoboda sich aktiv an der Zerstörung sowjetischer Gedenkstätten beteiligten. Im Gegenzug wurden in mehreren westukrainischen Ortschaften Denkmäler für Bandera und andere OUN-Anführer vandalisiert. Die Maidan-Proteste gingen wiederum mit einer Welle von gestürzten Lenin-Denkmälern einher; auch Denkmäler für andere Sowjetführer wurden zerstört. Die Ersetzung des sowjetischen Wappens an der Monumentalstatue in Kiew durch das ukrainische ist die neuste Massnahme, die auf die Beseitigung des sowjetischen Erbes abzielt.

Für viele Russen kommt dieser Akt einer Provokation gleich, denn der Sieg im «Grossen Vaterländischen Krieg», an den die Statue erinnert, ist ein wichtiger Teil der modernen russischen Identität – massiv gefördert durch staatliche Propaganda. Demgegenüber ist die ukrainische Sicht auf diesen schrecklichen Krieg differenzierter: Die Ukraine, die in ihrer Gesamtheit vom Kriegsgeschehen erfasst wurde, geriet gewissermassen zwischen den deutschen Hammer und den sowjetischen Amboss. Millionen von Ukrainern kämpften in der Roten Armee gegen die Invasoren; Zehntausende kämpften in der OUN oder als Partisanen. Wie es auf einer offiziellen Website der Ukraine heisst: «Die Tragödie des ukrainischen Volkes war das Fehlen eines eigenen Staates und damit seine Aufteilung auf alle Kriegsparteien in diesem Konflikt.»

Der Kampf um die Sprache

Die Ukraine ist ein zweisprachiges Land. Lange war allerdings die ukrainische Sprache, die mit dem Russischen – besonders in der Grammatik, weniger in der Lexik – eng verwandt ist, keine offizielle Sprache. Im Zarenreich und in der Sowjetunion dominierte das Russische, das heute noch von fast allen Ukrainern zumindest grundlegend beherrscht wird. Die ukrainische Sprache wurde mal mehr, mal weniger stark diskriminiert; Ende des 19. Jahrhunderts war sie beispielsweise im öffentlichen Raum verboten. Da die Ukrainer jahrhundertelang ohne eigene Staatlichkeit waren, bewahrten sie ihre Identität wesentlich durch ihre Sprache.

Auch deshalb wurde Ukrainisch mit der Unabhängigkeit 1991 zur alleinigen Staatssprache erhoben, obwohl das Russische nach wie vor von einem substanziellen Teil der Bevölkerung gesprochen wurde: Die unterschiedlichen Schätzungen bewegten sich zwischen 2001 und 2012 von knapp 30 bis über 50 Prozent. Russisch dominiert eher im Osten des Landes, Ukrainisch hingegen im Westen, wobei es jedoch keine scharfe Grenze gibt. Seit der Unabhängigkeit ist das Ukrainische im Vormarsch, und diese Tendenz hat sich seit 2014 und mehr noch seit dem russischen Angriffskrieg akzentuiert.

Sprachenkarte der Ukraine, 2014
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/195091/karte-alltagssprachen-in-der-ukraine/
Sprachverteilung in der Ukraine. Karte: bpb.de

Dennoch hat dieser Vormarsch der ukrainischen Sprache, jedenfalls noch bis vor Kurzem, nicht Schritt gehalten mit der Verschiebung, die sich bei der nationalen Identifizierung ereignet hat. Bezeichneten sich 1989 bei der letzten sowjetischen Volkszählung 72 Prozent als Ukrainer, waren es laut einer Umfrage 2017 bereits 91 Prozent. Der Anteil jener, die sich als Russen identifizierten, sank im gleichen Zeitraum von 22 auf 6 Prozent. Die stark russisch geprägten Oblaste im Osten, die teilweise jetzt besetzt sind, wurden 2017 allerdings nicht mehr erfasst. Dies zeigt, dass viele Bewohner des Landes zwar Russisch sprechen, sich aber gleichwohl als Ukrainer identifizieren.

Die verbreitete Zweisprachigkeit und die enge Verwandtschaft der beiden Sprachen müsste eigentlich für eine pragmatische staatliche Sprachpolitik sprechen – doch die ideologische Aufladung erschwert einen entspannten Umgang mit der Problematik. So kam es im ukrainischen Parlament 2012 zu Handgreiflichkeiten, als ein Gesetz verabschiedet wurde, das Russisch in bestimmten Regionen als Amtssprache anerkannte. Das Gesetz wurde unmittelbar nach der Maidan-Revolution 2014 vom Parlament wieder aufgehoben – allerdings legte Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow das Veto ein. Im Januar 2022 trat dann aber ein neues Sprachengesetz in Kraft, das die Verwendung der russischen Sprache in den offiziellen und öffentlichen Lebensbereichen reduzieren soll.

epa03294836 Ukrainian demonstrators stand watch during their protest near the Ukrainian Dom (Parliament House) in downtown Kiev, Ukraine, 04 July 2012. Hundreds of opponents of a newly-passed legislat ...
Demonstranten protestieren 2012 gegen das Sprachengesetz, das Russisch als regionale Amtssprache anerkennt. Bild: EPA

Bereits der Krieg mit den von Russland unterstützten Separatisten im Donbass hatte dazu geführt, dass der Staat die ukrainische Sprache aktiv förderte und manche russischen sozialen Medien sowie Radio- und Fernsehsendungen wegen antiukrainischer Propaganda verbot. Auch der Import von russischen Büchern wurde eingeschränkt. Diese Massnahmen werden von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen. Auch hier dürfte der russische Angriffskrieg die Zustimmung noch weiter erhöht haben. Viele Ukrainer mit russischer Muttersprache bemühten sich nun erstmals, Ukrainisch – als Symbol für eine freie Ukraine – zu lernen. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen Muttersprache Russisch ist, spricht nun ausschliesslich Ukrainisch.

Der Krieg als Katalysator

Niemand weiss, wie der verheerende Krieg enden wird, der mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen hat. Sicher scheint aber schon jetzt, dass der russische Präsident Wladimir Putin sich geirrt hat: Die Ukrainer, die er als Brudervolk betrachtet, das sich nach Rückkehr in die «Russische Welt» sehnt, sind nun weiter davon entfernt denn je. Der Krieg wirkt identitätsstiftend.

Der Prozess der Ablösung vom sowjetischen Erbe, der 1991 einsetzte, beschleunigte sich schon mit der russischen Annexion der Krim 2014 und dem bewaffneten Konflikt im Donbass. Die Historikerin Kerstin Jobst beschreibt es so: «Selbst Leute, die bis dahin eng mit Russland zusammenarbeiten wollten, oder solche, die sich nicht mit der Ukraine identifizieren konnten, bekannten sich mehr und mehr zur Ukraine.» Der ungleich brutalere russische Angriffskrieg wirkt wie ein Katalysator für diesen Prozess: Für die Mehrheit der Menschen in der Ukraine gebe es nun endgültig kein Zurück mehr an die Seite Moskaus, stellt Jobst fest.

Es ist indes nicht nur der Krieg, der die nationale Identität der Ukrainer festigt und sie in die Arme des Westens treibt. Die Orientierung nach Westen verdankt sich auch der Hoffnung, irgendwann als eigenständiges Land zum wohlhabenden und freien Westen zu gehören. Und die Westorientierung ist nicht gänzlich neu: Bedeutende Teile der Ukraine gehörten, bevor das Land vollständig unter russische Herrschaft geriet, zum Polnisch-Litauischen Doppelstaat und später zur Habsburgermonarchie. Beide Staatsgebilde waren vergleichsweise liberal, und diese Erfahrung trug dazu bei, wie der Historiker Mykola Riabchuk betont, die Ukraine im Hinblick auf die politischen Werte in Europa zu verankern. Demgegenüber herrschte im Zarenreich «ein perfekter Despotismus nach göttlichem Recht» vor, so Riabchuk.

Die Kontinuität der Moskowiter Despotie auch in der Sowjetunion – besonders in der Stalinzeit – trug weiter zur Abwendung von Moskau bei. Unvergessen ist nach wie vor der Holodomor in der Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Dieser katastrophalen Hungersnot, die von manchen Historikern als absichtlich inszenierter Völkermord bezeichnet wird, fielen in den Dreissigerjahren Millionen von Ukrainern zum Opfer. Und nach dem kurzen Tauwetter nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 veränderte sich Russland unter Putin wieder zum Schlechten. Das Zurückdrängen der Zivilgesellschaft, die offensichtlich manipulierten Wahlen, die Morde und Mordversuche an Regimekritikern seien in der Ukraine aufmerksam verfolgt worden, sagt Jobst. Von Russland geschoben, vom Westen gezogen – die ukrainische Identität ist dabei, sich endgültig vom «grossen Bruder» im Osten zu lösen.

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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Ein Rückblick im Video
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192 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Swen Goldpreis
13.08.2023 10:27registriert April 2019
Ich finde den ganzen Bezug auf die Geschichte eigentlich ohnehin unsinnig. Selber wenn die Ukraine einen gemeinsamen Urspung mit Russland gehabt hätte, was ich gar nicht so recht beurteilen kann, wäre das für die heutige Situation irrelevant.

Jetzt geht es darum, wie sich die Menschen im Jahr 2023 definieren und wo sie hingehören wollen. Und das ist zu akzeptieren. Wäre Putin ein bisschen klüger, hätte er wissen schon zu Beginn wissen können, dass er mit jeder Bombe über der Ukraine die Ablehnung Russlands nur vergrössert.
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sowhat
13.08.2023 10:41registriert Dezember 2014
Danke für diesen umfassenden und lehrreichen Hintergrundartikel.
Ich glaube das heute wichtigste ist tatsächlich die Grundeinstellung der heutigen ukrainischen Bevölkerung. Sie sind nicht mehr einem despotischen Regime untertan, sondern sind politisch und wirtschaftlich aktiv und denken selbst. Sie haben eine aktive gesellschaftspolitische Haltung, wie es sie in der russischen Untertanengesellschaft kaum gibt.
Die Ukrainerin, die ein Jahr lang bei mir wohnte hat es einmal kurz und prägnant gesagt: "die Ukraine ist ein modernes Land"
Und das kann man von Russland nicht behaupten.
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OrangeZebra
13.08.2023 12:35registriert Oktober 2020
Danke, interessanter Artikel. Ich war in den letzten 15 Jahren oft in der (West-)Ukraine. Nazis habe ich nie gesehen. Den Sprachenkonflikt konnte ich lange nicht nachvollziehen, schliesslich funktioniert das in der Schweiz schon lange. Die Ukraine ist aber anders: Für die Leute in der West-UA-die ich kenne, ist 2sprachigkeit kein Problem. Auch darf/durfte in UA jeder russisch sprechen, ohne Probleme. Im Osten gab es russische Schulen. ABER: Russland versucht, seit 2014 noch massiv mehr, Propaganda zu streuen. Und drum wollten viele nicht Rus als Amtssprache... Dieser Aspekt könnte man ergänzn
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