Sterben müssen wir alle. Und da noch niemand zurückgekommen ist, wissen wir nicht wirklich, was mit uns geschieht, wenn das Leben endgültig endet. Allerdings gibt es Menschen, die bis zur Schwelle des Todes gelangt sind und dann doch ins Leben zurückgefunden haben. Manche berichten von einem Licht am Ende eines Tunnels, andere schildern, wie sie ihren eigenen Körper von aussen sahen. Oft erleben die Betroffenen offenbar auch, dass ihr Leben wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft.
Gemäss Erhebungen der deutschen Sektion der International Association for Near-Death Studies aus dem Jahr 2003 berichteten knapp 90 Prozent der Personen, die eine Nahtoderfahrung (NTE) hatten, sie seien von einem «Gefühl der Ruhe, des Friedens oder des Wohlbefindens» erfüllt gewesen. Gut drei Viertel sagten, sie hätten ein «helles Licht» gesehen; mehr als 60 Prozent gaben an, sie hätten das Gefühl empfunden, sich ausserhalb ihres Körpers zu befinden und diesen von aussen zu sehen. Das Tunnelphänomen trat bei fast der Hälfte der Betroffenen auf, und ein knappes Drittel berichtete, sie hätten Ereignisse aus ihrem Leben wie in einem Film gesehen.
Es fällt auf, dass die Berichte dieser Menschen sich ähneln – und zwar unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht oder Bildungsstand. Auch ihr kultureller und religiöser Hintergrund hatte keinen Einfluss darauf, ob solche Erfahrungen überhaupt auftraten und welche Form sie annahmen. Aus diesem Grund nehmen Wissenschaftler an, dass hinter dem Phänomen ein biologischer Mechanismus steckt.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien widmen sich deshalb der Frage, was sich im Gehirn von sterbenden Lebewesen – seien es Menschen oder Tiere – abspielt. So auch eine neue Studie, die kürzlich in den «Proceedings of the National Academy of Sciences» veröffentlicht wurde. Sie könnte neue Erkenntnisse zum Ablauf des Sterbeprozesses liefern.
Das Forschungsteam um die Neurologin Jimo Borjigin von der Universität Michigan zeichnete bei vier komatösen Patienten, die im Sterben lagen, die Hirnaktivitäten mittels Elektroenzephalografie (EEG) auf. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung weisen darauf hin, dass das Gehirn im Augenblick des Sterbens hyperaktiv ist. Dies könnte ein Schlüssel für das Verständnis von Nahtoderfahrungen sein.
Frühere Versuche desselben Forschungsteams an Ratten hatten bereits ergeben, dass deren Gehirn in der ersten halben Minute nach einem Herzstillstand auffällig synchrone Muster von Gammawellen produzierte. Dies geschah auch bei zwei der vier sterbenden Patienten, einer 24-jährigen Frau und einer 77-jährigen Frau: Als bei ihnen die Beatmungsgeräte ausgeschaltet wurden, weil keine Hoffnung auf eine Besserung ihres Zustands mehr bestand, stieg die Herzfrequenz an und bei den Gehirnwellen in der Gammafrequenz traten Spitzen auf.
Diese Aktivität im Gammawellen-Bereich hielt auch dann noch an, als das Herz schon zu schlagen aufgehört hatte. Bei einer der beiden Patientinnen wurden in den Momenten vor ihrem Tod Werte gemessen, die um das Dreihundertfache höher lagen als vorher. Sie waren sogar höher als die Werte, die in normalen Gehirnen von Menschen gemessen werden, die bei vollem Bewusstsein sind. Andere Studien konnten zeigen, dass dasselbe Muster auftritt, wenn ein gesunder Mensch träumt, lernt oder sich aktiv an etwas erinnert.
Wenn Hirnzellen miteinander in Verbindung treten, synchronisieren sie ihre Aktivität: Sie stimmen ihre Wellenlänge aufeinander ab. So können verteilte Zellgruppen miteinander kommunizieren, ohne dass unterschiedliche Arten von Informationen durcheinandergeraten. Gammawellen sind die stärksten Gehirnwellen – ihre Frequenz liegt zwischen 25 und 140 Hertz (Deltawellen, die besonders im Tiefschlaf dominieren, oszillieren dagegen nur mit einer Frequenz von ein bis zwei Hz). Sie treten bei intensiver kognitiver Aktivität auf, etwa beim Lernen, beim Lösen von Problemen oder beim Abruf von Erinnerungen. Auch beim Träumen oder während einer tiefen Meditation sind solche Wellen messbar.
Spitzen bei den Gammawellen wurden schon in früheren Studien bei Menschen gemessen, die beinahe oder tatsächlich starben. So berichtete ein im vergangenen Jahr im Fachmagazin «Frontiers in Aging Neuroscience» veröffentlichtes Papier über ähnliche Muster von Gehirnwellen bei einem Patienten, dessen Hirnaktivität zufällig gemessen wurde, als er verstarb. Der 87-jährige Mann hatte nach einem Sturz epileptische Anfälle und musste deshalb per EEG überwacht werden. Er erlitt unerwartet einen Herzinfarkt, der zu seinem Tod führte.
Die beiden in der aktuellen Studie beschriebenen Patientinnen, die Gammawellen-Spitzen aufwiesen, hatten ebenfalls Anfälle gehabt, jedoch nicht kurz vor ihrem Tod. Interessant war indes vor allem der Bereich in ihrem Gehirn, in dem diese erhöhte elektrische Aktivität festgestellt wurde: Es handelte sich um die Kreuzung des Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptlappens im hinteren Teil des Gehirns.
Diesen Bereich bringen Neurologen mit Träumen, visuellen Halluzinationen bei Epilepsie und veränderten Bewusstseinszuständen in Verbindung. «Wenn dieser Teil des Gehirns aufleuchtet, bedeutet das, dass der Patient etwas sieht, etwas hört und möglicherweise etwas im Körper spürt», bemerkt Borjigin dazu. Sie nimmt an, dass die verstärkte Hirnaktivität darauf zurückzuführen ist, dass das Gehirn in einen Überlebensmodus umschaltet, wenn kein Sauerstoff mehr zugeführt wird.
So ist bekannt, dass der durch den Tod einsetzende Sauerstoffmangel eine Reihe von Veränderungen im Gehirn bewirkt. Es fährt die Kommunikation zwischen den Nervenzellen herunter, schüttet einen Schwarm von Signalmolekülen aus und erzeugt ungewöhnliche Muster von Gehirnwellen. Die Neuronen haben noch einmal einen elektrischen Output, der sich in Form einer Entladungswelle ausbreitet. Das sterbende Organ versucht gewissermassen, sich selbst wiederzubeleben, während es zugleich die äusseren Anzeichen des Bewusstseins herunterfährt: «Es schliesst die Tür zur Aussenwelt und kümmert sich um die inneren Angelegenheiten, weil das Haus brennt», wie Borjigin es ausdrückt.
Inwiefern diese Vorgänge in irgendeiner Form bewusst ablaufen, ist allerdings kaum zu sagen. Was die in der aktuellen Studie untersuchten Patientinnen erlebten, kann niemand wissen, da sie starben und nicht mehr schildern konnten, was mit ihnen geschah. Dies und der Umstand, dass die Stichprobenzahl sehr klein ist, verunmöglicht pauschale Aussagen über die Bedeutung der Studienergebnisse.
Das Forschungsteam warnt denn auch: «Wir können nicht ausschliessen, dass der Anstieg der Gammawerte ein Zeichen für einen pathologischen Prozess ist, der nur in der Sterbephase auftritt und nichts mit der bewussten Verarbeitung zu tun hat.» Und es weist darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen den Studienergebnissen und den Nahtoderfahrungen nicht belegt ist: «Wir sind nicht in der Lage, Korrelationen zwischen den beobachteten neuronalen Signaturen des Bewusstseins und einer entsprechenden Erfahrung bei denselben Patienten in dieser Studie herzustellen.» Gleichwohl seien die beobachteten Ergebnisse auf jeden Fall ein Anstoss für die weitere Erforschung des Bewusstseins beim sterbenden Menschen. (dhr)