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«Film des Lebens» vor dem Tod? Erstmals Hirnströme beim Sterben gemessen

Frau bei einer Elektroenzephalografie.
Bei einer Elektroenzephalografie werden verschiedene Hirnströme gemessen. Bild: Shutterstock

Läuft vor dem Tod der «Film des Lebens» ab? Erstmals Hirnaktivität beim Sterben gemessen

24.02.2022, 19:0703.03.2022, 12:34
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Was in unserem Gehirn genau abläuft, wenn wir sterben, wissen wir nicht. Wenn das Herz aufhört zu schlagen, zeigen die Hirnströme der Elektroenzephalografie (EEG) üblicherweise schon nach 20 Sekunden eine Nulllinie. Neurologische Daten aus dieser Übergangsphase sind eine Seltenheit, denn in der Regel haben die Ärzte alle Hände voll zu tun, wenn ein Patient einen Herzstillstand erleidet, und es bleibt keine Zeit für neurologische Untersuchungen. Zudem können solche Herzstillstände nicht vorhergesagt werden.

Ein tragischer Zufall hat nun Wissenschaftlern einen Einblick in das neurologische Geschehen während des Sterbens gewährt: Ein 87-jähriger Patient kam nach einem Sturz in die Notaufnahme, und da er an Epilepsie und Krampfanfällen litt, wurde er zur Überwachung an die kontinuierliche EEG angeschlossen.* Während dieser Aufzeichnungen verstarb der Mann an einem Herzinfarkt. Dieses unerwartete Ereignis erlaubte es den Wissenschaftlern, zum ersten Mal überhaupt die Aktivität eines sterbenden menschlichen Gehirns aufzuzeichnen.

*Korrektur: In einer früheren Fassung hiess es, der Fall habe sich in Estland zugetragen. Das stimmt nicht.

Ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung des Neurochirurgen Ajmal Zemmar von der Universität von Louisville im US-Staat Kentucky wertete die Daten aus und publizierte seine Erkenntnisse im Fachmagazin Frontiers in Aging Neuroscience. Zemmar, der am Unispital Zürich ausgebildet wurde, erklärte gegenüber «Frontiers Science News»:

«Wir haben 900 Sekunden Gehirnaktivität um den Todeszeitpunkt herum gemessen und uns bei der Untersuchung darauf konzentriert, was in den 30 Sekunden vor und nach dem Herzstillstand passiert. Unmittelbar bevor und nachdem das Herz aufhörte zu schlagen, stellten wir Veränderungen in einem bestimmten Bereich neuronaler Oszillationen fest, den sogenannten Gamma-Oszillationen, aber auch in anderen wie Delta-, Theta-, Alpha- und Beta-Oszillationen.»
Ajmal Zemmar
https://uoflphysicians.com/provider/ajmal-zemmar/
Neurochirurg Zemmar. Bild: uoflphysicians.com

Verschiedene Hirnwellen

Diese neuronalen Oszillationen, die vom EEG gemessen werden und gemeinhin unter der Bezeichnung «Hirnwellen» bekannt sind, entstehen, wenn Nervenzellen sich zusammenschalten und dann gemeinsam elektrische Impulse aussenden. Es gibt eine grosse Frequenzbreite an Hirnwellen, von ganz langsamen bis zu mehr als 100 Schwingungen pro Sekunde:

  • Delta-Wellen: Dies sind die niedrigsten Wellen im Bereich von 0,1 bis 3 Hertz (Hz). Sie treten besonders im traumlosen Tiefschlaf auf.
  • Theta-Wellen: 4 bis 7 Hz; sie sind charakteristisch für einen Zustand der Schläfrigkeit und leichte Schlafphasen.
  • Alpha-Wellen: 8 bis 13 Hz; stark in einem Zustand der Entspannung und beim Übergang vom Wachen zum Schlafen.
  • Beta-Wellen: 13 bis 30 Hz; typisch für einen wachen, gespannten Zustand, im höheren Frequenzbereich auch für Stress.
  • Gamma-Wellen: mehr als 30 Hz; charakteristisch für starke Konzentration und Lernprozesse, sie treten auch beim Meditieren auf.

Gehirn bleibt aktiv

In den 30 Sekunden vor dem Herzstillstand des Patienten zeigten die Hirnwellen dasselbe Muster wie bei hochkognitiven Funktionen – etwa Konzentration, Träumen, Meditation, Gedächtnisabruf, Informationsverarbeitung und bewusster Wahrnehmung. Dieses Muster blieb auch während den 30 Sekunden nach dem Herzstillstand erhalten. Für Zemmar deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass das Gehirn während des Sterbens aktiv und koordiniert bleiben könnte. Er spekuliert daher, dass die verstorbene Person ihr Leben durch den Abruf von Erinnerungen vor ihren Augen ablaufen sah:

«Durch die Erzeugung von Oszillationen, die am Gedächtnisabruf beteiligt sind, könnte das Gehirn eine letzte Erinnerung an wichtige Lebensereignisse kurz vor unserem Tod abspielen, ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen.»
Figure 1. (A,B) Axial and coronal non-contrast CT scans demonstrating bilateral acute subdural hematoma with a larger mass effect on the left side (maximum thickness 1.5 cm). (C,D) The same scan seque ...
CT-Scans des Gehirns des an Epilepsie leidenden Patienten. Bild: frontiersin.org

Gegenüber der BBC räumte Zemmar ein, dass es unmöglich sei, zu sagen, welche Art von Erinnerungen das Gehirn in diesem Moment aufrufe:

«Wenn ich mich auf die philosophische Ebene begeben würde, würde ich vermuten, dass sich das Gehirn bei einer Rückblende wahrscheinlich eher an die guten als an die schlechten Dinge erinnert. Aber was erinnerungswürdig ist, ist bei jedem Menschen anders.»

Nahtoderfahrungen

Nahtoderfahrungen, die tatsächlich auf einer lebensbedrohlichen medizinischen Situation beruhen (es gibt auch ähnliche Transzendenzerfahrungen, die etwa bei der Meditation vorkommen), treten in der Zeit zwischen dem klinischen Tod und der Reanimation auf. Tatsächlich gibt es Betroffene, die in dieser Phase Erinnerungen hatten, die wie ein Film abliefen. Manche erlebten das Gefühl, sich ausserhalb des Körpers zu befinden oder nahmen Landschaften wahr oder ein helles Licht am Ende eines Tunnels. Für einige waren die Erlebnisse mit einem grossen Glücksgefühl verbunden, andere hatten Angst- oder Panikzustände.

Diese Erfahrungen treten offenbar auf, wenn die Versorgung des Hirns mit Sauerstoff länger beeinträchtigt ist. Bei künstlich erzeugten Ohnmachtsanfällen durch Sauerstoffmangel im Gehirn konnten solche Erlebnisse ausgelöst werden, die Nahtoderfahrungen ähnelten.

Symbolbild Nahtoderfahrung Licht am Ende des Tunnels
Manche Menschen, die ein Nahtoderlebnis hatten, erinnern sich an ein Licht am Ende eines Tunnels.Bild: Shutterstock

Experiment mit Ratten

Die zufällig erfolgte Aufzeichnung der Hirnaktivität eines sterbenden Menschen erlaubt allerdings keine allgemeingültigen Aussagen. Der Patient litt zudem an Epilepsie. Doch der Befund von Zemmar und seinem Team wird gestützt durch eine Studie, die bereits 2013 an der Universität von Michigan durchgeführt wurde. Dort massen Wissenschaftler die Hirnströme von sterbenden Ratten bis zum endgültigen Hirntod. Zwischen dem Herzstillstand und dem Null-Linien-EEG konnten sie innerhalb der ersten 30 Sekunden ein extremes Ansteigen der kognitiven Verarbeitungsprozesse feststellen; die Gamma-Wellen nahmen rund 50 Prozent des EEG-Potenzials ein statt wie sonst 5 Prozent im Wachzustand. Auch die Theta-Wellen wurden stärker.

Neue Fragen

Für Zemmar ist klar, dass diese Ergebnisse Fragen aufwerfen. So etwa jene, wann genau das Leben endet, und in der Folge davon auch, welches der Zeitpunkt für eine Organspende sein soll. Er ist aber auch überzeugt, dass die Ergebnisse den Neurowissenschaftlern Hoffnung geben, das Phänomen dieses «Lebenserinnerungs-Films» besser zu verstehen, von dem Betroffene von Nahtoderfahrungen häufig berichten. (dhr)

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31 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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YearZero
24.02.2022 19:28registriert Februar 2022
Auch wennes schön ist, den Tod zu romantisieren; es könnte auch sein, dass das friedliche sterben ein koordinierter Prozess ist der etwas "Rechenpower" braucht. Natürlich gesehen ist der Tod nichts schlimmes und manch Lebewesen stimmt sich darauf ein, wenn es so weit ist.
Unser Freund Tod wird es jedem von uns einst zeigen kommen. Von da her, lads and gents, das Leben bleibt spannend bis zuletzt ;)
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Mike7788
25.02.2022 09:54registriert Juni 2021
Oder es wird einfach schnell noch ein Backup in die Cloud gemacht ;-)
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