Was in unserem Gehirn genau abläuft, wenn wir sterben, wissen wir nicht. Wenn das Herz aufhört zu schlagen, zeigen die Hirnströme der Elektroenzephalografie (EEG) üblicherweise schon nach 20 Sekunden eine Nulllinie. Neurologische Daten aus dieser Übergangsphase sind eine Seltenheit, denn in der Regel haben die Ärzte alle Hände voll zu tun, wenn ein Patient einen Herzstillstand erleidet, und es bleibt keine Zeit für neurologische Untersuchungen. Zudem können solche Herzstillstände nicht vorhergesagt werden.
Ein tragischer Zufall hat nun Wissenschaftlern einen Einblick in das neurologische Geschehen während des Sterbens gewährt: Ein 87-jähriger Patient kam nach einem Sturz in die Notaufnahme, und da er an Epilepsie und Krampfanfällen litt, wurde er zur Überwachung an die kontinuierliche EEG angeschlossen.* Während dieser Aufzeichnungen verstarb der Mann an einem Herzinfarkt. Dieses unerwartete Ereignis erlaubte es den Wissenschaftlern, zum ersten Mal überhaupt die Aktivität eines sterbenden menschlichen Gehirns aufzuzeichnen.
*Korrektur: In einer früheren Fassung hiess es, der Fall habe sich in Estland zugetragen. Das stimmt nicht.
Ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung des Neurochirurgen Ajmal Zemmar von der Universität von Louisville im US-Staat Kentucky wertete die Daten aus und publizierte seine Erkenntnisse im Fachmagazin Frontiers in Aging Neuroscience. Zemmar, der am Unispital Zürich ausgebildet wurde, erklärte gegenüber «Frontiers Science News»:
Diese neuronalen Oszillationen, die vom EEG gemessen werden und gemeinhin unter der Bezeichnung «Hirnwellen» bekannt sind, entstehen, wenn Nervenzellen sich zusammenschalten und dann gemeinsam elektrische Impulse aussenden. Es gibt eine grosse Frequenzbreite an Hirnwellen, von ganz langsamen bis zu mehr als 100 Schwingungen pro Sekunde:
In den 30 Sekunden vor dem Herzstillstand des Patienten zeigten die Hirnwellen dasselbe Muster wie bei hochkognitiven Funktionen – etwa Konzentration, Träumen, Meditation, Gedächtnisabruf, Informationsverarbeitung und bewusster Wahrnehmung. Dieses Muster blieb auch während den 30 Sekunden nach dem Herzstillstand erhalten. Für Zemmar deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass das Gehirn während des Sterbens aktiv und koordiniert bleiben könnte. Er spekuliert daher, dass die verstorbene Person ihr Leben durch den Abruf von Erinnerungen vor ihren Augen ablaufen sah:
Gegenüber der BBC räumte Zemmar ein, dass es unmöglich sei, zu sagen, welche Art von Erinnerungen das Gehirn in diesem Moment aufrufe:
Nahtoderfahrungen, die tatsächlich auf einer lebensbedrohlichen medizinischen Situation beruhen (es gibt auch ähnliche Transzendenzerfahrungen, die etwa bei der Meditation vorkommen), treten in der Zeit zwischen dem klinischen Tod und der Reanimation auf. Tatsächlich gibt es Betroffene, die in dieser Phase Erinnerungen hatten, die wie ein Film abliefen. Manche erlebten das Gefühl, sich ausserhalb des Körpers zu befinden oder nahmen Landschaften wahr oder ein helles Licht am Ende eines Tunnels. Für einige waren die Erlebnisse mit einem grossen Glücksgefühl verbunden, andere hatten Angst- oder Panikzustände.
Diese Erfahrungen treten offenbar auf, wenn die Versorgung des Hirns mit Sauerstoff länger beeinträchtigt ist. Bei künstlich erzeugten Ohnmachtsanfällen durch Sauerstoffmangel im Gehirn konnten solche Erlebnisse ausgelöst werden, die Nahtoderfahrungen ähnelten.
Die zufällig erfolgte Aufzeichnung der Hirnaktivität eines sterbenden Menschen erlaubt allerdings keine allgemeingültigen Aussagen. Der Patient litt zudem an Epilepsie. Doch der Befund von Zemmar und seinem Team wird gestützt durch eine Studie, die bereits 2013 an der Universität von Michigan durchgeführt wurde. Dort massen Wissenschaftler die Hirnströme von sterbenden Ratten bis zum endgültigen Hirntod. Zwischen dem Herzstillstand und dem Null-Linien-EEG konnten sie innerhalb der ersten 30 Sekunden ein extremes Ansteigen der kognitiven Verarbeitungsprozesse feststellen; die Gamma-Wellen nahmen rund 50 Prozent des EEG-Potenzials ein statt wie sonst 5 Prozent im Wachzustand. Auch die Theta-Wellen wurden stärker.
Für Zemmar ist klar, dass diese Ergebnisse Fragen aufwerfen. So etwa jene, wann genau das Leben endet, und in der Folge davon auch, welches der Zeitpunkt für eine Organspende sein soll. Er ist aber auch überzeugt, dass die Ergebnisse den Neurowissenschaftlern Hoffnung geben, das Phänomen dieses «Lebenserinnerungs-Films» besser zu verstehen, von dem Betroffene von Nahtoderfahrungen häufig berichten. (dhr)
Unser Freund Tod wird es jedem von uns einst zeigen kommen. Von da her, lads and gents, das Leben bleibt spannend bis zuletzt ;)