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Interview

«Grösste Zäsur seit 1945», sagt Expertin zu Russland-Ukraine-Konflikt

Ukrainian soldiers take positions outside a military facility as two cars burn, in a street in Kyiv, Ukraine, Saturday, Feb. 26, 2022. Russian troops stormed toward Ukraine's capital Saturday, an ...
Ein ukrainischer Soldat positioniert sich vor einer militärischen Einrichtung in Kiew. Bild: keystone
Interview

«Man hat Putin falsch eingeschätzt»

Julia Friedrich, Expertin für osteuropäische Politik, lebte bis vor Kurzem in Kiew. Wo sie aktuell ist und ob sie mit der russischen Invasion der Ukraine gerechnet hat, erzählt sie im Interview.
27.02.2022, 09:3228.02.2022, 16:23
Helene Obrist
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Frau Friedrich, Sie arbeiten für das Global Public Policy Institute in Berlin von Kiew aus. Sind Sie aktuell noch dort?
Ich bin seit zwei Wochen in Berlin. Mein ganzes Leben ist aber noch in Kiew. Es ist furchtbar, was gerade passiert.

Haben Sie mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine gerechnet?
Da muss ich ehrlich sein: Mit einem so schnellen und krassen Angriff habe ich nicht gerechnet. So richtig konnte sich das niemand vorstellen. Ein offener Angriff Russlands auf die Ukraine wurde in Expertinnenkreisen wegrationalisiert.

Julia Friedrich ist Wissenschaftlerin am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin und Expertin für osteuropäische Politik.
Julia Friedrich ist Wissenschaftlerin am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin und Expertin für osteuropäische Politik.bild: zvg

Liegt es daran, dass man den russischen Präsidenten Wladimir Putin unterschätzt hat?
Ich würde nicht sagen, unterschätzt. Man wusste, dass er ein skrupelloser Herrscher ist. Aber man hat ihn falsch eingeschätzt.

>>> Alle aktuellen Entwicklungen in der Ukraine im Live-Ticker

Die USA haben im Vorfeld Geheimdienstinformationen publiziert und vor einem Angriff gewarnt.
Viele dachten, das sei eine Abschreckungsstrategie der USA. Nach dem Motto: Sobald Russlands Strategie in der Öffentlichkeit steht, würden sie auch nicht in die Ukraine einmarschieren.

Es kam anders.
Der Angriff auf die Ukraine fällt aus dem Rahmen. Bislang hat man die russische Aussenpolitik anders verstanden.

Wie denn?
Russland leugnet seit Jahren die ukrainische Souveränität. Das ist nicht neu. Aber bisher wartete Russland immer auf eine «offensichtlichere» Provokation. Bevor der Krieg in Georgien 2008 startete, hiess es von russischer Seite, georgische Soldaten hätten zuerst geschossen. Auch bei der Annexion der Krim versuchte man Vorwände vorzuschieben, warum Russland einmarschiert. Das ist in diesem Fall anders. Die Begründungen Putins, warum er die Ukraine bombardiert, sind nicht mehr glaubwürdig. Sie sind nur noch politisch.

«Der Angriff auf die Ukraine fällt aus dem Rahmen. Bislang hat man die russische Aussenpolitik anders verstanden.»

Was bedeutet es für den Frieden im Westen, dass Russland mit Raketen, Soldaten und Panzern ins Nachbarland einmarschiert?
Putin hat die etablierten Prinzipien und völkerrechtlichen Verträge missachtet. Er hat die europäische Friedensordnung mit Füssen getreten. Russland führt einen offenen Angriffskrieg auf ein europäisches Land. Das ist die grösste Zäsur seit 1945.

Weder die USA noch die Nato werden mit militärischen Mitteln reagieren. Steht der Westen Russland hilflos gegenüber?
Auch wenn militärische Optionen nicht auf dem Tisch liegen, ist der Westen nicht komplett hilflos. Wladimir Putin weiss, dass sich die Nato und die USA hüten werden, Truppen zu schicken. Und damit spielt er offensichtlich auch. In seiner Rede sagte er, dass Russland mit nie dagewesenen Massnahmen reagieren werde, wenn sich andere Länder militärisch wehren.

Das heisst, der Westen kann nur zuschauen?
Putin ist gewillt zu schiessen, wir nicht. Die EU und die USA haben aber Sanktionsmöglichkeiten. Diese sind noch nicht ausgeschöpft. Ich weiss nicht, wie klug es ist, weitere Eskalationsstufen abzuwarten. Russland marschiert in die Ukraine ein. Der schlimmste Fall ist bereits eingetroffen. Man sollte mit den schlimmsten Massnahmen reagieren.

«Russland führt einen offenen Angriffskrieg auf ein europäisches Land. Das ist die grösste Zäsur seit 1945.»

Was passiert, wenn es Russland gelingt, die Ukraine zu besetzen? Zieht Putin dann weiter gen Nordwesten und greift die baltischen Staaten an?
Komplett ausschliessen würde ich das nicht. Aber Staaten wie Litauen, Lettland und Estland sind Bündnispartner der Nato. Diese Länder anzugreifen, das ist eine andere Kragenweite. Auch die Nato wird ernste Unterhaltungen über bewaffnete Konflikte führen müssen. Und die Präsenz im Osten erhöhen. Sorgen mache ich mir eher um andere Gebiete.

Welche?
Ich halte die Gefahr einer russischen Invasion in Moldawien und Transnistrien für akuter. Bereits seit Anfang der 90er Jahre sind dort russische «Friedenstruppen» stationiert, die ein international nicht anerkanntes Regime stützen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dort eine weitere Front entsteht.

Am Freitag hiess es plötzlich, dass Russland bereit sei für Friedensverhandlungen. Kann man dieser Ansage trauen?
Da bin ich sehr misstrauisch, wie ernst das wirklich gemeint ist. Da wird man abwarten müssen. Und bevor die Ukraine überhaupt über Frieden verhandeln wird, müssten sich die russischen Truppen aus dem Land zurückziehen.

Kann so etwas wie eine europäische Friedensordnung mit Russland überhaupt wieder hergestellt werden?
Solange Putin regiert, kann ich mir eine neue Friedensordnung schwer vorstellen. Eine europäische Sicherheitsordnung funktioniert nur dann, wenn sich alle Mitglieder an rechtliche Bestimmungen wie beispielsweise das Völkerrecht halten. Putin strebt nach Macht und missachtet das Völkerrecht.

Wie viele Bewohnende Russlands unterstützen die Pläne ihres Machthabers?
Für viele ist die Situation extrem schwierig. Vergangenes Jahr gab es grosse Proteste, als der russische Oppositionelle Alexej Nawalny festgenommen wurde. Diese wurden mit viel Härte niedergeschlagen. Am Donnerstag wurden mehr als 1700 Menschen in 44 Städten festgenommen, weil sie gegen den Krieg demonstrierten. Protestieren ist in Russland eine gefährliche Sache, daher sind die Demonstrationen bisher klein. Ausserdem haben sich viele Menschen aus der Politik zurückgezogen. Aber das gilt nicht für alle Russinnen und Russen. Es gibt sicherlich auch Teile der Bevölkerung, die tatsächlich der Meinung sind, dass Putin die Ukraine gerade von einem faschistischen Regime befreit.

«Solange Putin regiert, kann ich mir eine neue Friedensordnung schwer vorstellen.»

Wie geht es für Sie nun weiter? Werden Sie nach Kiew zurückkehren?
Ich hoffe es. Aber ob ich zurückkann, ist erstmals nebensächlich. Zuerst muss der Zivilbevölkerung in der Ukraine geholfen werden. Viele wollen das Land so schnell wie möglich verlassen. Die internationale Gemeinschaft sollte nicht nur Sanktionen gegenüber Russland aussprechen, sondern sich auch auf das vorbereiten, was noch kommt. Es wird humanitäre Hilfe vor Ort brauchen. Und auch die Nachbarstaaten der Ukraine müssen sich auf unzählige geflüchtete Menschen vorbereiten.

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160 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Salvatore_M
27.02.2022 07:52registriert Januar 2022
Frau Friedrich sagt es richtig. Eine europäische Sicherheitsordnung funktioniert nur dann, wenn das Völkerrecht eingehalten wird. Wie soll man künftig mit Russland diskutieren oder verhandeln? Wie soll man künftig mit jemandem reden, der das Völkerrecht missachtet und der lügt. Alle westlichen Regierungsvertreter, welche mit Putin oder Lawrow diskutierten und verhandelten, haben dies wirklich vergeblich getan.
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Asterio
27.02.2022 08:02registriert Oktober 2018
Die Parallelen zu Covid sind frappant. Da hat man das Virus auch falsch eingeschätzt und musste dann Hals über Kopf die Läden dicht machen. Wir haben Mühe mit undenkbaren (aber nicht unrealistischen) Szenarien zu rechnen.
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Florotor
27.02.2022 08:24registriert Dezember 2017
Leute, vergesst niemals: Gorbatschow hat nicht vor Reagan kapituliert, nicht vor der Nato und nicht vor den Pershings.

Gorbatschow hat die Menschenketten gesehen von Riga über die polnischen Werften bis zu den Montagsdemos in Berlin und eingesehen, dass seine Waffen diese Menschen nicht gewinnen können. Und darum hat er sie nicht mehr eingesetzt.

Waffen kann man schlagen, Soldaten darf man töten. Nur die Menschen, die einander die Hände reichen und dem Aggressor die nackte Brust zeigen, können diesen Teufelskreis brechen.

Denkt an Gorbatschow: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
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Eingefrorene russische Vermögen könnten schon bald die Ukraine finanzieren
Die Regierungen der USA und Grossbritanniens drängen darauf, die Zinserträge eingefrorener russischer Gelder an die Ukraine zu überweisen. Die Gelder würden für Munitionskauf und den Wiederaufbau der Ukraine verwendet.

Die Ukraine braucht dringend Munition und Geld. Der Munitionsmangel ist zu einem Grossteil auf beschränkte Produktionsmöglichkeiten zurückzuführen. Dass Geld fehlt, ist jedoch auf fehlenden politischen Willen zurückzuführen, wie der Economist schreibt.

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