Die erste Bewährungsprobe hat Joe Biden bestanden. Der Westen spricht, für einmal, mit einer Stimme. Einhellig wurde der russische Angriff auf die Ukraine am Donnerstag verurteilt; niemand im Konzert der europäischen Regierungen schlug sich auf die Seite von Russlands Präsident Wladimir Putin. Alle sagten, wie Biden auch: «Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen.»
Biden, dem Kritiker vorgeworfen hatten, seine wiederholten Warnungen vor einer unmittelbar bevorstehenden Attacke der russischen Streitkräfte klängen zunehmend hysterisch, kann sich damit bestätigt sehen. Er hat eine Koalition gezimmert, die (auch in Amerika) linke wie rechte Politikerinnen und Politiker umschliesst.
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Einzelne Akteure, die gegen den Strich bürsten, wirken isoliert. So mag der abgewählte Präsident Donald Trump den russischen Präsidenten für «gewitzt» und «sehr klug» halten; unter republikanischen Oppositionspolitikern ist dieser Positionsbezug nicht mehrheitsfähig.
Biden hat zudem bewiesen, dass ein amerikanischer Machthaber – auch wenn er, wie der 46. US-Präsident, bereits im fortgeschrittenen Alter ist – lernfähig sein kann. Der Demokrat hat aus dem diplomatischen Debakel des Jahres 2014, als sich Putin letztmals wichtige Teile der Ukraine aneignete, ohne dafür einen wirklich hohen Preis zu bezahlen, die richtigen Schlüsse gezogen: Bei Putin zählen nicht Worte, sondern Taten. Er ist ein Autokrat. Am Verhandlungstisch spielt ein Mann wie Putin mit gezinkten Karten, weil er kein Interesse an diplomatischen Kompromissen hat. Es ist deshalb vergebliche Liebesmühe, sich auf seine Zusicherungen zu verlassen.
Aber natürlich weiss Biden, dass dem westlichen Bündnis der eigentliche Lackmustest noch bevorsteht. Washington, Berlin und London mögen heute scharfe Sanktionen gegen den Kreml und mit Putin verbündete Oligarchen verabschieden; was aber passiert, wenn sich der russische Machthaber von dieser geeinten Front nicht beeindrucken lässt, und seine Streitkräfte in der Ukraine stationiert bleiben?
Der amerikanische Präsident hat zwei Linien in den Sand gezogen, die eigentlich keiner Interpretation bedürfen. Erstens, sagte Biden, werde er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte keinen Kampfeinsatz amerikanischer Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine bewilligen. Kürzlich sagte er dem Sender NBC:
Und zweitens stünden die USA hinter dem Prinzip der kollektiven Sicherheit. Wenn Russland also einer der 30 Mitgliedsstaaten des Nordatlantikpakts angreifen würde, dann würde Amerika diesem Verbündeten beispringen.
Diese beiden Zusicherungen verkörpern, mangels eines besseren Ausdruckes, die Biden-Doktrin: Der Präsident, politisch seit den späten Sechzigerjahren aktiv und ein in der Wolle gewaschener Transatlantiker, ist ein Verfechter der Nato. Dies hebt ihn von einer neuen Generation populistischer Aussenpolitiker ab, die behaupten, das westliche Verteidigungsbündnis habe seinen Dienst getan.
Biden weiss aber auch, dass die amerikanische Bevölkerung kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Russland hat. Und die Ukraine spielt in den Augen vieler Amerikaner, auch wenn der US-Präsident dem Land persönlich verbunden ist, keine allzu wichtige Rolle. Gemäss aktuellen Umfragen sind bloss 26 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner der Meinung, die USA sollten in der «Ukraine-Krise» eine wichtige Rolle spielen.
Diese Zahlen sind nicht in Stein gemeisselt. Der Zusammenbruch von Jugoslawien in den Neunzigerjahren und die humanitären Katastrophen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo zeigen, dass auch tendenziell isolationistisch gestimmte Amerikaner ihre Meinung ändern können – wenn sie mit eigenen Augen sehen, welches Leid ein Krieg anrichten kann. Biden war damals im US-Senat ein führender Kritiker von Serbiens Autokrat Slobodan Milosevic. Er warf seinem Parteikollegen im Weissen Haus, Präsident Bill Clinton, Passivität vor und beschuldigte ihn indirekt der religiösen Diskriminierung.
Aber es stimmt eben auch, dass viele Jahre vergangen sind, seit Amerika solche Missionen unternahm, um Massaker zu stoppen oder einfallende Armeen zurückzuschlagen. Die Siegesparade am Ende des Zweiten Golfkriegs, der mit der Befreiung Kuwaits von den Truppen des irakischen Diktators Saddam Hussein endete, ging am 8. Juni 1991 in Washington über die Bühne. Die Nato-Bombardements von jugoslawischen Stellungen fanden in der ersten Jahreshälfte 1999 statt.
Die Jahre unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lassen sich schwerlich mit 2022 vergleichen – ist das Sicherheitsdenken der Amerikaner doch aktuell immer noch stark von den Terrorattacken am 11. September 2001 und den aussenpolitischen Abenteuern der Regierung von George W. Bush geprägt. So begründete Biden im vorigen September den hastigen Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan mit den Worten: «Amerika ist nicht mehr länger der Weltpolizist.»
Hinzu kommen, wie stets in Amerika, innenpolitische Motive. Biden ist unbeliebt, seine Amtsführung wird aktuell nur von 42 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Dafür verantwortlich ist das Debakel in Kabul, aber auch die wirtschaftspolitische Lage in Amerika. In acht Monaten stehen die nächsten nationalen Wahlen an. Joe Bidens Demokratische Partei hat Angst vor einem Debakel an der Urne.
Biden warnte seine Landsleute vor einigen Tagen, dass die «Verteidigung der Freiheit» ihren Preis habe. Er stimmte sie damit auf turbulente Tage und Wochen ein, auch wenn Amerika weit entfernt von Kiew oder Mariupol liegt. Biden hofft, dass er Putin unter einer Welle von Sanktionen begraben kann. Sollte dieser Plan nicht funktionieren, dann droht ein langer Stellungskrieg. Und Biden wird beweisen müssen, dass er ein Staatsmann ist, der meint, was er sagt. Und dass er den russischen Präsidenten wirklich zur Rechenschaft ziehen will.
Und die Ukraine bleibt so oder so der Verlierer. Leider.