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Swisscom und Co. wollen die Netzneutralität freiwillig gewährleisten – und ernten Spott und massive Kritik 

Schweizer Internet-Provider

Swisscom und Co. wollen die Netzneutralität freiwillig gewährleisten – und ernten Spott und massive Kritik 

Die grossen Schweizer Internet-Provider wollen «das offene Internet in der Schweiz» sicherstellen. Doch von den unabhängigen Experten der Digitalen Gesellschaft wird der Vorschlag zerzaust.
07.11.2014, 14:2512.11.2014, 11:44
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Während die Schweizer Politik derzeit noch über eine gesetzliche Regelung der Netzneutralität diskutiert, haben die Unternehmen Swisscom, Sunrise, UPC Cablecom, Orange und der Verband Swisscable selber einen Vorstoss zur Klärung des Themas gewagt. Ein Verhaltenskodex soll Klarheit beim Thema Netzneutralität schaffen, wie die Swisscom am Freitag mitteilte.

Die ersten Reaktionen fallen sehr kritisch aus, wie der folgende Tweet eines Vertreters der Digitalen Gesellschaft zeigt:

Netzneutralität bedeutet, dass alle Daten beim Transport durch das Internet gleich behandelt werden, unabhängig von Absender, Empfänger, Dienst, Anwendung oder Inhalt. Technisch ist es heute aber möglich, dass Anbieter Daten im Internet beim Transport blockieren, verlangsamen oder nach Produkten differenzieren.

Keine Sperrung von Diensten

Die Telekommunikationsunternehmen wollen nun offenbar mit einem Verhaltenskodex einer Regulierung zuvorkommen. Konkret erklären die unterzeichnenden Netzbetreiber in dem gemeinsam verfassten Text, keine Internetdienste und -anwendungen zu sperren.

In einigen Fällen soll die Steuerung des Datenverkehrs jedoch möglich bleiben: etwa, um Verfügungen von Behörden umzusetzen, schädliche Aktivitäten zu blockieren oder Kapazitätsengpässe zu überwinden, wie es im Kodex heisst.

Auch auf Kunden zugeschnittene Angebote sollen zugelassen sein. Das bedeutet gemäss den Erläuterungen zum Kodex beispielsweise, dass gewisse Dienste lediglich mit reduzierter Übertragungskapazität oder mit Datenlimiten zur Verfügung stehen.

Absolut neutral, wie der Begriff Netzneutralität es vermuten liesse, sei das Internet nie gewesen und könne es auch nicht sein, heisst es in den Erläuterungen zum Kodex. «Nicht alle Daten, welche durch das Internet fliessen, werden und sollen gleich behandelt werden.»

Schlichtungsstelle soll vermitteln

Die Unterzeichner des Verhaltenskodex wollen eine Schlichtungsstelle gründen. Diese soll von den Netzbetreibern unabhängig und neutral sein. So könne diese vermitteln, wenn ein Internetnutzer die Richtlinien verletzt sieht und eine Empfehlung abgeben, heisst es. Sie prüfe zudem fortwährend die Verhaltensrichtlinien und deren Auswirkungen auf die Offenheit des Internets und berichte jährlich darüber.

Sehr unterschiedliche Interessen
Erst Ende Oktober hatte ein Bericht des Bundesamts für Kommunikation (BAKOM) in der Schweiz die unterschiedlichen Interessen aufgezeigt, die mit der Netzneutralität verknüpft sind. Internetnutzer sehen die Freiheit im Internet gefährdet, Internet-Provider argumentieren dagegen mit der ökonomischen Innovation.
In der EU ist die Diskussion bereits weiter fortgeschritten: Sie kennt seit 2009 Vorschriften zum Schutz der Netzneutralität. In den USA wird seit über zehn Jahren bereits um das Thema gerungen. (sda)

Internet-Aktivisten und Juristen kritisieren

Die Digitale Gesellschaft ist ein offener Zusammenschluss netzpolitisch interessierter Gruppen und Personen in der Schweiz. Dazu gehören unter anderem der Chaos Computer Club (CCC) und die Piratenpartei. In einer Stellungnahme lassen die unabhängigen Fachleute kein gutes Haar an der Initiative der Schweizer Internet-Provider.

Netzneutralität bezeichne die nicht diskriminierende Übertragung von Daten im Internet, heisst es in der Medienmitteilung. «Sie gewährleistet das Bürgerrecht auf freien Zugang zu Informationen. Benutzerinnen und Benutzer, nicht grosse Internet-Provider, sollen über Erfolg oder Misserfolg von Angeboten im Internet entscheiden.» 

Die Versprechungen der Internet-Provider hätten mit Netzneutralität wenig zu tun. So werde weiterhin eine kommerzielle Diskriminierung der Anbieter von Inhalten (Web-TV etc.) und anderen Online-Dienstleistungen ermöglicht. Das offene Internet drohe in der Schweiz durch ein Zwei-Klassen-Internet ersetzt zu werden.

Bezahlt Netflix für bessere Verbindungen?

Laut der Digitalen Gesellschaft bietet der Verhaltenskodex der Schweizer Internet-Provider unter anderem aus den folgenden Gründen keine Gewähr, dass die Netzneutralität gewahrt werde:

• Es sei weiterhin möglich, von Inhalte- und Diensteanbietern Geld für die Durchleitung von Daten zu verlangen. Dadurch werde das wichtige «Innovation without permission»-Prinzip verletzt.

• Die Verlangsamung von Daten werde nicht verboten. Im Verhaltenskodex sei nur von Blockierung die Rede. Gerade die Verlangsamung von Daten könne aber als Druckmittel gegen Anbieter eingesetzt werden, um zusätzliche Zahlungen zu erreichen.

• Die kommerzielle Diskriminierung werde explizit zugelassen, «so dass beispielsweise Anbieter wie Teleboy oder Wilmaa weiterhin von Orange und Swisscom diskriminiert werden dürfen».

• Es werde keine Transparenz über Verletzungen der Netzneutralität gewährleistet. Solange die Provider nicht öffentlich und von sich aus über Verletzungen der Netzneutralität berichteten, könne von Transparenz keine Rede sein. «Wichtig wäre auch jederzeit Auskunft über allfällige Zahlungen von Inhalteanbietern für die schnellere Durchleitung zu erhalten. So besteht der Verdacht, dass Netlix in der Schweiz die grossen Internet-Provider für bessere Verbindungen bezahlt.»

 (dsc/sda)

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