Die Geschichte kam für Luzi Stamm zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Kurz vor den Wahlen 2011 wurde bekannt, dass der SVP-Politiker eine Hausangestellte seiner Eltern 72 Stunden pro Woche arbeiten liess – für 3000 Franken Monatslohn, ohne Vertrag.
Der Streit endete vor dem Arbeitsgericht in Baden. Dieses verknurrte Stamm dazu, der Frau nachträglich 200 Franken an Haushaltsgeld zurückzahlen. Eine Lohnklage wies es hingegen ab, weil die Haushälterin «zumindest stillschweigend» in das Arbeitsverhältnis eingewilligt habe.
Die Geschichte ist bei weitem kein Einzelfall: Immer öfter beschäftigen die Arbeitsbedingungen von ausländischen Privat-Betreuerinnen die Schweizer Richter – wobei es in der Regel um wesentlich höhere Beträge geht als im Fall Stamm.
Im Fokus stehen die sogenannten Care-Migrantinnen: Der Bund schätzt, dass es rund 10’000 ausländische Betreuerinnen gibt, die zwischen ihrem Heimatland und der Schweiz hin- und herpendeln. Jeweils für einige Wochen wohnen sie in einem Schweizer Haushalt, um dort eine betagte oder kranke Person zu betreuen. Dann kehren sie nach Hause zurück.
Beim Netzwerk Respekt der Gewerkschaft VPOD, das sich auf die Vertretung und Organisation von Care-Migrantinnen spezialisiert hat, liegen derzeit rund zwanzig Dossiers von Frauen auf dem Tisch, die von ihren Arbeitgebern Lohnnachzahlungen verlangen. Meist geht es um Zehntausende von Franken.
Häufigste Streitpunkte sind die Entlöhnung ihrer Präsenzzeit und der nicht gewährten Freizeit: Die Betreuerinnen müssen oft an sieben Tagen pro Woche rund um die Uhr bereit stehen, um sich um die Betagten oder Kranken zu kümmern – obwohl die wöchentliche Arbeitszeit laut Vertrag in der Regel nur 42 Stunden beträgt. Das Problem ist bekannt: Als «Pflegesklavinnen» bezeichnete etwa die «Zeit» solche Frauen in einem Artikel.
Schon vor vier Jahren warnte eine vom Bund eingesetzte Arbeitsgruppe davor, dass die Frauen rechtlich ungenügend geschützt seien. In einem wegweisenden Urteil kam das Zivilgericht Basel-Stadt zudem 2014 zum Schluss, dass eine Polin auch für ihren nächtlichen Pikettdienst mit dem halben Stundenlohn hätte bezahlt werden müssen.
Nun reagiert der Bundesrat: Er will die 24-Stunden-Betreuungsarbeit kantonal regulieren, wie er letzte Woche mitteilte. Das Wirtschaftsdepartement soll bis Mitte 2018 zusammen mit den Kantonen «minimale Vorgaben» zur Anrechnung der Präsenzzeit erarbeiten.
Eliane Albisser, Rechtsberaterin beim VPOD Region Basel, hätte lieber eine nationale Regelung gesehen, die die 24-Stunden-Betreuung dem Arbeitsgesetz unterstellt. Sie sagt: «Heute arbeiten die Betreuerinnen während ihrer Einsätze oft unter unwürdigen Bedingungen.» Viele der vorwiegend aus Osteuropa stammenden Frauen hätten weder an den Abenden noch an den Wochenenden jemals Zeit für sich – sie müssten zur Stelle sein, falls die Betagte zur Toilette muss oder etwas essen will.
«Viele schlafen bei offener Tür, damit man jederzeit nach ihnen rufen kann. Kürzlich war eine Polin bei mir, die eine betagte Frau in den Tod begleitete und im letzten Monat in deren Zimmer schlief.» Die Angehörigen seien bei der Schlichtungsverhandlung nicht bereit gewesen, die erbrachten Präsenzzeiten und Nachteinsätze rückwirkend zu entschädigen. Eine Klage ist hängig.
Verrichte eine Betreuerin ihre Arbeit unter diesen Umständen, müsste ihr Monatslohn deutlich über 10’000 Franken pro Monat liegen, rechnet Albisser vor. Es gehe jedoch nicht darum, solche Arrangements mittels höherer Löhne zu legitimieren. Viel wichtiger sei es, dass neben der Entschädigung der Präsenzzeiten zwingend auch Ruhe- und Freizeit gewährleistet wird. Es müsse verbindlich geregelt werden, wann und von wem die Betreuerin abgelöst wird.
Der Bundesrat liess für die geplanten neuen Vorschriften vom Institut «B,S,S» mehrere Szenarien durchrechnen. Ergebnis: Bei einer Minimalvariante stiegen die Kosten für eine 24-Stunden-Betreuung pro Monat um 1200 Franken. Bei einer Maximalvariante, bei der auch der Pikettdienst mit dem vollen Stundenlohn bezahlt wäre, betrügen die Zusatzkosten im Schnitt 10’500 Franken.
Während manche Betreuerinnen von den betagten Personen oder ihren Familien selber angestellt sind, werden andere von Firmen vermittelt. Entsprechende Angebote gibt es im Netz in Hülle und Fülle: Einige Anbieter versprechen schon ab 1990 Franken pro Monat eine 24-Stunden-Betreuung, andere verlangen 6000 Franken oder mehr dafür.
Wie viel davon an die Frauen weitergegeben wird, ist unklar. Sicher ist aber, dass ein Teil der Angebote illegal ist. Denn der Bund schreibt für ungelernte Betreuerinnen in Privathaushalten einen Mindest-Stundenlohn von knapp 19 Franken vor.
Mehrere angefragte Firmen – auch im höheren Preissegment – wollten sich auf Anfrage nicht öffentlich zu den geplanten neuen Pikett-Vorschriften äussern. Off the record machen die Verantwortlichen ihrem Ärger aber Luft. Die Forderungen der Gewerkschaften seien massiv überrissen, sagt der Geschäftsleiter einer Firma aus dem Mittelland zu watson. «Dann können wir die Bude ja gleich zutun, weil sich niemand mehr eine Heim-Betreuung leisten kann. Dann müssen halt alle alten Leute ins Altersheim.»
Dass die Politik etwas unternehme, sei zwar zu begrüssen. Denn in der Branche gebe es viele schwarze Schafe, die die Preise drückten und die Frauen tatsächlich unter prekären Bedingungen arbeiten liessen. «Wir seriösen Anbieter sorgen dafür, dass die Frauen an zwei Tagen pro Wochen frei haben. In dieser Zeit organisiert die Familie des Pflegebedürftigen einen Ersatz – oder sie bezahlt für eine zweite Pflegerin.»
Weil die Gewerkschaften aber selbst dann noch ein Haar in der Suppe fänden, wolle er seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, so der Geschäftsführer. Seine Mitarbeiterinnen seien sehr zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen, betont er. «Sie verdienen bei uns mindestens 3600 Franken – für eine Polin oder eine Ungarin ist das unglaublich viel Geld.» Insofern handle es sich um eine Win-win-Situation.
Gewerkschafterin Albisser lässt dieses Argument nicht gelten. In den bevorstehenden Verhandlungen mit den Kantonen, in die die «betroffenen Kreise» einbezogen werden sollen, geht es für sie auch darum, den Wert der Betreuungsarbeit anzuerkennen. «Es muss klar werden: Jemanden rund um die Uhr zu betreuen, ist Arbeit und kostet etwas.»