Sergei Karaganow ist Direktor der Abteilung für World Economy and International Affairs an der Hochschule für Volkswirtschaft in Moskau. Damit gehört er zu den bedeutendsten Vordenkern Russlands. Karaganow ist kein Aussenseiter, sondern verkörpert den Mainstream. Er unterstützt den Krieg seines Präsidenten gegen die Ukraine vollumfänglich.
Serge Schmemann, langjähriger Bürochef in Moskau für die «New York Times», hat ihn nach seinen Gründen gefragt. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen:
In den Augen von Karaganow ist der Krieg in der Ukraine ein Überlebenskampf; nicht der Ukrainer – die sind für ihn bloss Kanonenfutter –, sondern der dekadenten westlichen Elite. «Dieser Konflikt ist existenziell für die meisten modernen Eliten im Westen, die im Begriff sind, das Vertrauen ihrer Bevölkerung zu verlieren», so Karaganow. «Um davon abzulenken, brauchen sie einen Feind. Doch die meisten westlichen Länder, aber nicht ihre regierenden Eliten, werden bestens überleben und aufblühen, selbst wenn der liberale, globalistische Imperialismus – den Menschen seit den späten Achtzigerjahren aufgezwungen – zusammengekracht sein wird.»
Auch für Russland stellt der Ukraine-Krieg gemäss Karaganow einen Überlebenskampf dar, doch dieser Kampf ist ganz anderer Natur. «Für Russland steht nicht nur das Schicksal einer Elite auf dem Spiel, sondern das Schicksal des gesamten Landes. Deshalb kann es nicht verlieren, und deshalb wird es – hoffentlich bald – gewinnen.»
In diesem angeblichen Überlebenskampf der russischen Nation müssen wieder grosse Opfer gebracht werden, beispielsweise der Bruch mit dem Westen und die Tatsache, dass Russland wahrscheinlich über lange Zeit ein Paria-Staat sein wird. Für Karaganow ist das ein vorübergehendes Phänomen. «Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und moralischen Entwicklung des Westens können wir nicht weit genug von ihm entfernt sein, zumindest für ein Jahrzehnt oder zwei. Danach werden sich die Beziehungen hoffentlich wieder erholen, zumal dann die Eliten ausgewechselt sein werden.»
Für den Westen geht es im Ukraine-Konflikt nicht nur um die Souveränität eines Landes, sondern auch um die Zukunft der Demokratie. Unter Wladimir Putin habe sich Russland zunehmend in ein autoritäres Regime entwickelt, ja gar ein neuer Stalinismus breite sich aus, so die Diagnose vieler westlichen Experten.
Karaganow dreht diese These auf den Kopf. Mit Wokeness, Cancel Culture und Political Correctness breite sich im Westen ein neuer Totalitarismus aus, stellt er fest. «Wir hingegen haben keine Cancel Culture, und wir verordnen keine strikte Political Correctness. Im Westen mache ich mir Sorgen um die Meinungsfreiheit in der Zukunft.»
Und was ist mit der Tatsache, dass die Mitglieder der russischen Eliten in Scharen das Land verlassen? Karaganow outet sich als Clint-Eastwood-Fan und zitiert dazu seinen legendären Spruch aus den «Dirty Harry»-Filmen: «Make my day.» «Die kriegerische Politik des Westens ist geradezu willkommen. Sie säubert unsere Gesellschaft von den übrig gebliebenen pro-westlichen Elementen, von käuflichen und nützlichen Idioten.»
Während es für den Westen in der Ukraine um die Zukunft der Demokratie geht, steht für Karaganow die Zukunft einer neuen Weltordnung auf dem Spiel. Zentrum dieser neuen Weltordnung wird Eurasien sein, «mit seiner grossartigen Zivilisation, die 700 Jahre unterdrückt worden ist. Russland wird dann seine natürliche Rolle spielen, es wird die Zivilisation aller Zivilisationen werden».
Bis es so weit sein wird, müssen allerdings noch ein paar heikle Klippen umschifft werden. Karaganow befürchtet, dass der Ukraine-Konflikt ausser Kontrolle geraten könnte. «Wir leben in einer verlängerten Kuba-Krise», stellt er fest. «Und ich sehe keinen Kennedy auf der anderen Seite des Atlantiks.» (Für die etwas Jüngeren unter euch: In der Kuba-Krise kam es im Oktober 1962 beinahe zu einem Atomkrieg zwischen der damaligen UdSSR und den USA.)
Diese Befürchtung teilen, unter anderen, die beiden westlichen Politologen Liana Fix und Michael Kimmage. Die beiden analysieren in «Foreign Affairs» regelmässig den Verlauf des Ukraine-Konflikts. In ihrem jüngsten Beitrag fragen sie ebenfalls besorgt: «Was, wenn der Krieg in der Ukraine ausser Kontrolle gerät?»
Fix und Kimmage stellen zwar fest, dass niemand ein Interesse daran hat, dass sich dieser Krieg ausweitet. «Aber selbst der gemeinsame Wunsch von Putin und Biden, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, ist keine Garantie dafür, dass der Krieg sich selbst einschränken wird.»
An Gefahrenherden mangelt es nicht. So könnten die Ukrainer etwa – beabsichtigt oder nicht – mit den ihnen nun zur Verfügung stehenden HIMARS-Raketensystemen Ziele in Russland treffen. Oder umgekehrt könnten die Russen Waffenlieferungen auf Nato-Gebieten angreifen. Beides könnte einen katastrophalen Atomkrieg auslösen.
So besorgniserregend dies auch sein mag: «Die Welt muss lernen, damit zu leben», stellen Fix/Kimmage nüchtern fest. «Die Kuba-Krise hat gerade mal 13 Tage gedauert. Die Krise, die durch den Krieg in der Ukraine entstanden ist, wird uns noch lange begleiten.»
Und nein. Ich möchte nicht in einer russischen "Zivilisation" leben. Einer "Zivilisation" welche auf Mord, Vergewaltigung, Zerstörung und geklauten Toiletten basiert.
Und jetzt ein anderes Zitat von Karganow (Karg auch im Geiste):
«Wir hingegen haben keine Cancel Culture, und wir verordnen keine strikte Political Correctness. Im Westen mache ich mir Sorgen um die Meinungsfreiheit in der Zukunft.»
Aber sie dürfen nicht einmal "Krieg" sagen, wenn sie nicht im neuzeitlichen Gulag Russlands verschwinden wollen...
Nur keine Sorge!
Die Verwendung des Gender-Sternchens ist nicht so furchtbar, wie von der russischen Armee bombardiert zu werden.
Der 70-jährige Karaganow wurde mitten im Kalten Krieg geboren und wurde von der Sowjetunion geprägt.
Er kritisiert ausschliesslich die westlichen Eliten.
Dass der demokratische Westen aber sozio-kulturell, wirtschaftlich und politisch nicht von den Eliten, sondern von der breiten Bevölkerung geprägt und geformt wird, übersteigt sein post-sowjetisches Vorstellungvermögen:
Denn in Russland ist die Bevölkerung entmündigt und wird von der „Elite“ (räusper) als eine nach Belieben verschiebbare und formbare Masse betrachtet.