«Hätte ich doch unbekannte Reden, fremdartige Sprüche, neue Worte, noch nie gebraucht und frei von Wiederholungen, nicht die Sprüche der Vergangenheit, welche die Vorfahren schon brauchten.
Ich presse meinen Leib aus von dem, was er hält, ich siebe alle meine Worte; denn Wiederholung ist alles, was man sagt, und alles Gesagte ist schon einmal gesagt.
Von der ersten Generation bis zu denen, die einst kommen, alle ahmen nur nach, was vergangen ist. Wüsste ich doch, was andere nicht wissen, was noch niemals überliefert wurde, dass ich es sage, und mein Herz mir Antwort gebe.
Hätte ich doch ein Herz, leiderfahren, dann würde ich bei ihm Zuflucht finden; ich könnte die Last meines Rückens auf es abwälzen. Er sprach zu seinem Herzen: ‹Komm doch, mein Herz, dass ich zu dir spreche und du mir antwortest auf meine Sätze – deute mir, was in der Welt geschieht›.»
Auszug aus den Klagen des Chacheperreseneb, altes Ägypten, ca. 19. Jh. v. Chr.
Die Welt, wie Chacheperreseneb sie kannte, ist nicht mehr. Sein Land ist zerstört, verwüstet, ins Chaos gestürzt. Er ringt um Worte, doch keines scheint ihm würdig genug, die Verheerung zu beschreiben. Alles, was er in seinem Mund findet, ist der fade Abklatsch von bereits Gesagtem.
Chacheperreseneb kapituliert vor der Katastrophe. Ihr vernichtendes Wesen lässt sich nicht einfangen, denn die Worte, mit denen wir die Welt zu ordnen gelernt haben, verlieren jeden Sinn, wenn diese Welt nicht mehr existiert.
Katastrophen machen uns erst einmal sprachlos – heute genauso wie im 19. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als diese Klage verfasst wurde.
Wie reagiert der Mensch auf eine solche Verheerung? Das ist die Frage, die im Mittelpunkt der diesjährigen Ringvorlesung des Zentrums für Altertumswissenschaften (ZAZH) steht. Referenten aus den unterschiedlichsten Disziplinen gehen den Naturkatastrophen, Epidemien und Plagen der Antike nach und zeigen die ganze Palette an menschlichen Reaktions- und Deutungsmustern auf, die teilweise erschreckende Parallelen zur heutigen Pandemie-Krise haben.
Der altägpytische Autor mit dem unaussprechlichen Namen fährt fort: «Das ganze Land ist in grosser Verwirrung, niemand ist frei vom Bösen, und alle tun es, ohne Unterschied, die Herzen sind gierig.»
Ein solches Verhalten überrascht Frank Rühli, seines Zeichens Professor für Evolutionäre Medizin an der Universität Zürich, nicht im Geringsten. Das sei Teil des evolutionären Gepäcks, das der Mensch schon seit Urzeiten mit sich rumschleppe:
Er bleibt nun mal ein Herdentier, das besonders in der Krise unreflektiert Dinge von anderen übernimmt, auch im 21. Jahrhundert. Nur so sind Hamstereinkäufe möglich, die Panik ist ansteckend und die Sorge um Toilettenpapierknappheit hat von Australien ausgehend gleich die ganze westliche Welt infiziert.
Das Verharmlosen oder Verdrängen einer drohenden Gefahr gehöre genauso zur Bandbreite der menschlichen Reaktionen wie das extrem panisch und egoistische Handeln, das wiederum in der selbstlosen Aufopferung mancher Märtyrer sein Gegenstück findet. Am Ende erhöhe ein vielfältiger Reaktionsstrauss die Überlebenschance einer Population. Denn würden alle das genau gleiche Verhalten an den Tag legen, und erwiese sich dieses dann als falsch, würden alle sterben.
Auch Peter Maurer hat als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) schon überall auf der Welt die vielfältigsten Reaktionen auf Katastrophen gesehen. In den Krisengebieten, in denen seine humanitäre Organisation tätig ist, sind auch die Katastrophen selbst ein komplexes Zusammenspiel von mindestens fünf Komponenten wie Klimawandel, Korruption, Gewalt, Konflikt und Unterentwicklung. Und dennoch, inmitten dieser grauenvollen Not staune er immer wieder über die enorme Widerstandskraft der Menschen, die auch nach der sechsten Vertreibung noch nicht gebrochen sei. Nachdem ihr Zuhause zerbombt wurde, stehen sie wieder auf. Nachdem ihr Zelt in Flammen aufging, bauen sie ein neues. Die menschliche Leidenstoleranz sei schier unglaublich, totale Resignation habe er nirgendwo gesehen.
Doch der Grad der Verletzlichkeit sei je nach Gesellschaft schon sehr unterschiedlich: Hier klage man über die einschränkenden Pandemie-Massnahmen und warte voller Ungeduld auf die zweite Impfdosis, während andernorts Menschen noch immer von traditionellen Seuchen wie Polio oder Tuberkulose dahingerafft werden. Pro Minute sterben weltweit drei Menschen an der Schwindsucht.
Die humanitäre Hilfeleistung, die das IKRK Menschen in Not bietet, knüpft erst einmal an die Resilienz der Betroffenen an: Man halte die Hoffnungsperspektiven aufrecht und zeige ihnen Handlungsmöglichkeiten auf.
Deshalb sei man in der Entwicklungshilfe auch davon abgekommen, Güter die fehlen, einfach bereitzustellen. «Dort, wo die Beschäftigung nicht gelingt, sind Gewaltgruppierungen beispielsweise junger arbeitsloser Männer wahrscheinlicher und diese können sich zu förmlichen Gewaltspiralen auswachsen.»
Und dann ist da natürlich noch die Ebene der Regierenden. Wie reagiert die Führung einer bestimmten Gesellschaft auf die Krise? Werden die Diskurse rational oder emotional geführt? Ist die Bewältigung eine machtpolitische Angelegenheit oder wird sie von der Logik professioneller Bearbeitung diktiert? Wird gebetet oder politisch gehandelt?
Bereits im Altertum hat man Vorkehrungen und Massnahmen gegen Katastrophen und Seuchen unternommen, die Anlegung von Deichen gegen Überschwemmungen zum Beispiel oder das Bauen von Stützmauern gegen Erdrutsche. Als in Rom um 25 n. Chr. plötzlich die Gesichter der männlichen Oberschicht durch eine ominöse Hautkrankheit entstellt wurden, erliess Kaiser Tiberius ein Verbot gegen den im Adel weit verbreiteten «cotidiana oscula», den Begrüssungskuss, der als Hauptansteckungsquelle identifiziert worden war.
Doch neben diesen pragmatischen Verfügungen hat man in jenen vorwissenschaftlichen Zeiten auch stets versucht, die Götter mit verschiedenen Opfern zu besänftigen. Denn schliesslich waren sie die Unglücksurheber, sie sandten den Menschen Plagen, Kriege und Erbeben – sei es, um sie zu strafen oder auch nur aus einer Laune heraus.
Das Weltbild im Alten Orient gründete auf der Vorstellung, dass alles ein grosses Beziehungs- und Handlungsgeflecht zwischen Göttern und Menschen sei. «Noch unterschied man nicht zwischen Natur als dem Bereich kausaler Gesetzmässigkeiten und der Kultur als dem Bereich menschlicher Freiheit», erklärt der Theologe Thomas Krüger. Noch war alles miteinander verwoben.
Das heisst aber mitnichten, dass Katastrophen und die Geschichten, die von ihnen erzählen, nicht bereits politisch instrumentalisiert worden sind. So zumindest liesse sich der mesopotamische Erra-Mythos aus dem 7. Jh. v. Chr. deuten:
Der Unheilsgott Erra wird von seinen Kriegern angestachelt, einen Feldzug gegen die Menschen zu unternehmen, um sie zu vernichten. So könne er den Göttern etwas Gutes tun, denn die Menschen störten den Schlaf der Götter. Täte er es, würden ihm hernach alle Götter des Himmels Ehrfurcht erweisen.
Um seinen Plan zu verwirklichen, muss Erra aber erst die Weltherrschaft übernehmen, die der babylonische Reichsgott Marduk innehat. Listig versucht er, Marduk aus seinem Tempel zu locken, indem er ihm weismacht, sein Ornat und seine Krone seien so verschmutzt, dass sie endlich einmal ordentlich gereinigt werden müssten. Doch ohne seine Herrschaftsinsignien kann Marduk nicht regieren.
Wenn er seinen Thron verlässt, passiert Schlimmes, das weiss er aus Erfahrung: «Vor langer Zeit wurde ich schon einmal zornig, erhob mich von meinem Platz und löste eine Flut aus», sagt er nun zu Erra. Die Regierung über Himmel und Erde habe sich aufgelöst, der Himmel erzitterte, die Sterne verschoben sich und er brachte sie nicht wieder an ihren Platz zurück. Die Unterwelt bebte, der Furche Ertrag wurde gering, und als er sich umschaute, war es schwierig geworden, sich zu ernähren. Schliesslich musste Marduk wie ein Bauer die Saat mit seinen eigenen Händen aufgreifen, alles musste er selbst wieder aufbauen – angefangen mit der Vegetation.
Schliesslich gelingt es Erra aber doch, Marduks Zweifel zu zerstreuen. Er selbst würde während Marduks Abwesenheit die Regierungsgeschäfte übernehmen. Doch als sich Marduk nun auf den Weg macht, verdunkelt sich die Welt sogleich und die ganze kosmische Ordnung bricht zusammen. Erra aber sorgt nicht wie versprochen für Recht und Ordnung, sondern beginnt nun seinen Kampf, eine Schneise der Verwüstung durch Babylon und die Städte des Landes ziehend.
Thomas Krüger vom Theologischen Institut führt aus, dass der Mythos vermutlich die Zerstörung Babylons durch den assyrischen König Sanherib (705 bis 680 v. Chr.) beschreibe. Dessen Sohn und Nachfolger Asarhaddon habe die Geschichte dann als königliche Lektüre aufgeschrieben und das schreckliche Geschehen als göttliche Willkür erläutert, als launiges Spiel der Götter. Eine geschickte Verschleierungstaktik, damit die Verantwortung für die Katastrophe auf den Kriegsgott geschoben werden konnte.
Auch wenn die Führer eines Landes oder einer Gruppierung die Katastrophe nicht selbst mitzuverantworten haben, ist ihre Rhetorik von entscheidender Bedeutung.
Dort, wo Leaders die Krise zuspitzen, sei die Gefahr einer weiteren Eskalation gross. Maurer nennt das Beispiel vom Genozid in Ruanda, der massgeblich durch den Sender Radio-Télévision Libre des Mille Collines losgetreten wurde. Er war das Sprachrohr der extremistischen Hutu-Power, der nicht nur Hass-Propaganda gegen Tutsi und gemässigte Hutus unter der weitgehend analphabetischen Bevölkerung verbreitete, sondern auch an der Koordinierung der Massaker beteiligt war.
Sie vom IKRK seien existentiell darauf angewiesen, dass ein sogenannter humanitärer Raum geschaffen werde, sagt Maurer. Ein unparteilicher, unabhängiger, neutraler Ort, wo sich Menschen aus verschiedenen, sich gegenseitig zerreibenden Konfliktparteien treffen und verständigen können, um die elementaren Probleme der Gesellschaft anzugehen. Dafür seien im Feld die sogenannten Frontline Negotiators zuständig. Ihre Erfahrungen wiederum würden systematisch ausgewertet, um zu lernen, wie man Vertrauen herstellt, wenn kein Vertrauen da ist.
Das Vertrauen in die eigenen Führer kann aber auch in demokratischen Gesellschaften bröckeln, wie die aktuelle Corona-Krise zeigt. Maurer meint, dass es vielleicht an der Zeit sei, jene Standardverfahren der politischen Kommunikation – also das Entscheiden hinter verschlossenen Türen und das nachfolgende an die Öffentlichkeit treten mit einer Pressekonferenz – zu überdenken. Denn solange die politischen Entscheidungsprozesse nicht verständlich gemacht und die Interessen nicht offengelegt würden, verletzten sie auch immer das Transparenzbedürfnis der Öffentlichkeit. Widersprüche könnten in diesem Rahmen schlecht ausdiskutiert werden und würden dann zu jenen täglich ausbrechenden Konflikten in den sozialen und anderen Medien führen.
In der Krise selbst sind wir wohl kaum in der Lage, politische Standardprozesse neu zu denken. Ist sie aber einmal ausgestanden, so hat sie neben all dem menschlichen Leid, die sie naturgemäss mit sich bringt, auch stets positive Konsequenzen, wie Maurer ausführt:
Alle wesentlichen politischen und rechtlichen Entwicklungen, alle Anstrengungen hin zu einer gerechteren Welt stehen seit der Entstehung der Genfer Konventionen 1863 immer am Ende von einschneidenden Katastrophen. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges, der Erfahrung von Holocaust und Vertreibung kam der Schutz der Zivilbevölkerung als wichtigste Erweiterung des humanitären Völkerrechts hinzu. Normen zum internen bewaffneten Konflikt wurden nach den Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika formuliert.
Das Wort «Katastrophe» bedeutet eigentlich Wende und bezeichnet speziell den Wendepunkt in der Tragödie. Hier entscheidet sich, ob sich das Drama zum Guten oder zum Schlechten wendet. Sie kann also immer auch eine Chance sein, eine Möglichkeit auf Besserung.
Nur müssen wir dafür aus der Geschichte, aus unserem eigenen Fehlverhalten lernen. Auch in Frank Rühlis Institut für Evolutionäre Medizin beschäftigt man sich mit der Frage, welche Erkenntnisse man aus dem Wissen über historische Plagen ziehen kann, speziell auch im Hinblick auf die aktuelle Covid-19-Krise.
Sicher sei aber, dass eine Pandemie, wie wir sie heute haben, in dieser rasanten Ansteckungsdynamik ein modernes Phänomen sei, die selbst die Spanische Grippe 1918 nicht aufgewiesen habe.
In früheren Zeiten war aber die Wirkung eines Erregers eine viel verheerendere: Vor dem Aufkommen wirksamer Präventionsmethoden und medizinischer Therapien sind während der Pestepidemien ganze Bevölkerungsgruppen weggestorben, weil damals die natürliche Selektion noch in ganz anderen Dimensionen wirkte: Aufgrund der vorzeitigen Sterblichkeit hatte nur etwa ein Drittel der geborenen Individuen die Möglichkeit, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben.
Die Überlebenden aber passten ihren Genpool dafür umso schneller an und wurden entsprechend resistent. Das habe ein ganz anderes evolutionsbiologisches Verhalten zwischen Erreger und Wirt hervorgebracht, schlussfolgert Rühli.
Es gebe historische Pandemien, die die Genetik der Menschheit verändert haben. Ein bekanntes Beispiel dafür sei CCR5-Delta32: Träger dieser Mutation sind gegenüber den meisten HIV-Stämmen resistent. Hier stelle sich wiederum die Frage, wann, warum und bei wem dieses Gen genau entstanden ist. Eine bisher unbewiesene Theorie geht davon aus, dass Menschen, die die Pest überlebt haben, eher Träger dieser Mutation seien.
Auch von der Spanischen Grippe könnten wir gewisse Dinge lernen, meint Rühli. Natürlich liesse sich nicht alles eins zu eins auf die heutige Situation übertragen, aber es gebe durchaus sinnvolle Vergleichsmöglichkeiten.
Die evolutionärmedizinische Forschungsgruppe um Kapsar Staub ging in ihrem kürzlich erschienen Paper der Frage nach, inwieweit die staatlichen Massnahmen von 1918 in der Schweiz vergleichbar sind mit heute und welchen Einfluss sie auf die erste und zweite Welle gehabt haben:
Hier hat sich beispielsweise gezeigt, dass, wenn der Staat zu Beginn einer Welle zögerlich handle und allzu sehr auf Gemeindeautonomie setze, die Welle auch entsprechend länger dauere. Ebenso haben sich allzu frühe Lockerungen gerächt; der Kanton Bern wurde nach den Wiederöffnungen der Theater, Kinos, Schulen und Chorproben von der zweiten, noch viel verheerenderen Herbstwelle überrollt.
«Wenn wir solche historische Vergleichsdaten haben, müssen wir diese auch in unser Wissen einfliessen lassen», findet Rühli und untermauert jene Dringlichkeit mit einer weiteren Statistik von Kapar Staub, die schön zeigt, wann sich der Mensch jeweils der Historie besinnt:
in der Krise.