Das Mundstück der Wasserpfeife geht von einem zum anderen, und dazwischen wird über Präzisionsgewehre gefachsimpelt. «Ich stelle meine Munition mit einer Maschine selber her», erklärt der athletisch gebaute Mann mit dem grauen Schnauz. «Man kann dann zum Beispiel genauso viel Schiesspulver in die Patronenhülse einfüllen, wie es für den nächsten Einsatz ideal ist.»
Auf der anderen Seite des Tisches sitzt ein Ukrainer in Zivil – ein Angehöriger einer Spezialeinheit der Polizei. Er hört aufmerksam zu und erzählt zwischendurch von seinen eigenen Erfahrungen als Scharfschütze.
Die schicke Bar im Stadtzentrum von Kiew ist ein beliebter Treffpunkt westlicher Helfer und Söldner. Da sitzt zum Beispiel ein blutjunger Sanitäter aus Kanada, in der Uniform der ukrainischen Armee.
Der Mann mit dem grauen Schnauz trägt zwei militärgrüne Faserpelzjacken übereinander. Auf der unteren Jacke, von aussen unsichtbar, prangt am Oberarm ein Abzeichen der ukrainischen Spetsnaz, einer Sondereinheit der Sicherheitskräfte, deren Namen noch aus der Sowjetzeit stammt.
Avi Motola ist 47 Jahre alt und besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft. Er hat als «Sniper», also Scharfschütze, für eine ukrainische Eliteeinheit «gearbeitet», wie es landesüblich heisst, wenn jemand in den Krieg zieht und kämpft. Nun wartet Motola leicht genervt auf seinen nächsten Auftrag, doch gestaltet sich das schwieriger als gedacht – wegen der wuchernden ukrainischen Bürokratie.
Motola ist im Kanton Schaffhausen aufgewachsen und hat eine Lehre als Zimmermann absolviert. Danach lebte er viele Jahre in Israel. Motola ist jüdisch und geht in einer der Kiewer Synagogen ein und aus. Man kennt ihn dort. Dass er sich als Schweizer wegen «fremden Militärdienstes» gemäss Militärstrafgesetz strafbar macht, ist ihm bewusst, aber es kümmert ihn wenig. «Ich habe nicht vor, in die Schweiz zu reisen», sagt er, und ausserdem gebe es angesichts des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine Wichtigeres als schweizerische Gesetzesparagrafen.
Dass ausgerechnet ein jüdischer Schweizer Kämpfer in der Ukraine an die Öffentlichkeit tritt, ist überraschend. Denn es ist noch nicht lange her, dass sich Medien über die mögliche Präsenz von Schweizer Neonazis bei ukrainischen Kampfverbänden Sorgen machten. Allerdings wurde seit der russischen Invasion im letzten Februar keine Abwanderung von Neonazis Richtung Ukraine beobachtet – weder aus der Schweiz noch aus anderen europäischen Ländern.
Noch im letzten Sommer liess der Bundesrat verlauten, dass er nicht wisse, wie viele Schweizer in der Ukraine gegen die Russen kämpfen. Statt der befürchteten Neonazis hat sich nun ein Schaffhauser Jude den ukrainischen Streitkräften angeschlossen.
Avi Motola zeigt auf seinem Handy ein Video von einem Gefecht in einem Wald. Darin ist er anhand einer Tätowierung am Handgelenk leicht zu erkennen. Auf seinen Unterarm hat er sich ausserdem einen Pfeil, eine sogenannte Tyr-Rune, tätowieren lassen. Sie gehört zum Emblem einer Einheit, in der Motola gekämpft hat. Tyr war der altnordische Kriegsgott, und deshalb ist die Rune auch bei vielen Rechtsradikalen beliebt. Sie wurde zudem im Dritten Reich als Abzeichen verwendet.
Ob er mit Neonazis in der Ukraine konfrontiert worden sei? «Ja, die gibt es, sie stellen aber eine sehr kleine Minderheit dar», antwortet Motola. Wenn er Leute mit rechtsextremen Tätowierungen wie Hakenkreuzen oder Schwarzen Sonnen damit konfrontiere, dass er Jude sei, falle deren Argumentation meist schnell in sich zusammen. «Sie sind in erster Linie Patrioten und nicht Neonazis. Viele haben gar kein richtiges Bewusstsein, was diese Symbole bedeuten. Und eines muss man ganz klar sagen: Wenn ich in der Ukraine mit einer Kippa auf dem Kopf herumspaziere, werde ich sehr viel seltener schräg angemacht als zum Beispiel in Berlin oder Zürich.»
Ausserdem werde ihm als Elitesoldaten in der Regel mit grossem Respekt begegnet. Das können wir in einem Kiewer Pub miterleben, der von vielen westlichen Söldnern frequentiert wird. Ein Amerikaner in ukrainischer Uniform und ein zweiter ausländischer Kämpfer erheben sich von ihrem Tisch, als sie Motola erblicken, und begrüssen ihn ehrfürchtig.
Kurz nach Beginn der russischen Invasion kam Motola mit einer Hilfsorganisation nach Kiew. Für seinen Entschluss, sich von der humanitären Hilfe zu verabschieden und fortan zu kämpfen, waren zwei Ereignisse ausschlaggebend.
Da war dieses sechs- oder siebenjährige Mädchen, dessen Brust russische Marodeure ausserhalb von Kiew mit Schnitten verunstalteten, bevor sie es umbrachten. Und dann sei Motola dabei gewesen, als Zivilisten über einen «humanitären Korridor» evakuiert werden sollten. Die Russen hätten dann aber auf die Vertriebenen geschossen.
«Danach gab es für mich nur noch die Möglichkeit, die Russen mit der Waffe zu bekämpfen», sagt Motola. «Ich fühle mich betroffen, wenn unschuldige Zivilisten gefoltert, massakriert und in Massengräbern verscharrt werden.»
Motola zeigt ein Bild von sich und mehreren Kämpfern in ukrainischen Uniformen. Beim Chef, einem Hünen mit Gesichtstätowierung, handle es sich um einen zum Islam konvertierten Israeli. Die Männer tragen nicht die in den ukrainischen Streitkräften üblichen AK-74-Sturmgewehre aus der Sowjetzeit, sondern SCAR-Gewehre der belgischen Fabrique Nationale, eine eigens für Sondereinsatzkräfte entwickelte Waffe. Sein Team sei unter anderem für Sabotageaktionen hinter den russischen Linien verantwortlich gewesen.
Inzwischen sitzen wir in einem Restaurant und bestellen etwas zu essen. Der junge Kellner kennt Motola, er weiss, dass er in der Armee gut vernetzt ist. «Kannst du mir bitte helfen?», fragt er. «Mein Bruder ist auch Soldat. Ich habe aber seit längerem nichts mehr gehört von ihm und mache mir Sorgen.»
Der Schweizer lässt sich den Namen geben und schreibt einem Freund, der sich an der richtigen Stelle in der militärischen Hierarchie erkundigen kann. Nach einer halben Stunde kommt die Antwort: Der Bruder sei tot oder in Gefangenschaft geraten, man wisse es nicht genau. Motola ist bedrückt: «Wie soll ich das dem Jungen hier bloss erklären?»
Wenigstens machen einzelne einen Unterschied wenn die Schweiz sich schon nicht überwinden kann, anderen Länder die Weitergabe von CH-Kriegsmaterial zu erlauben.
Wenn die Schweiz aus Neutralitätsgründen die Weitergabe von Waffen und Munition blockiert, finde ich das heuchlerisch und kontraproduktiv sich den internationalen Regeln des Völkerrechts zu entziehen.