Es ist ein sehr kleines Buch. Bloss 46 Seiten Text und die auch überaus locker bedruckt. Es ist ein Ein-Mann-Stücktext, mit dem sein Autor, der 40-jährige Basler Regisseur Boris Nikitin, gerade um die Welt tourt.
Es ist ein sehr grosses Buch. Eines, das auf wenigen Seiten fragt, was Freiheit bedeuten kann. Es ist ein sehr persönliches, geradezu intimes Buch. Die Geschichte der beiden Freiheiten von Boris Nikitin und seinem Vater. Boris Nikitin ist schwul. Sein Vater ist tot. Und was hat das jetzt miteinander zu tun? Mit Selbstbildern, in die man sich hineingeworfen meint. Das des heterosexuellen, das des gesunden Mannes. Und der Befreiung davon.
Bevor der Vater von der unheilbaren Nervendegenerationskrankheit ALS eingeholt wird, ist er ein zwanghaft gesunder Mann, betrachtet den «Körper als chemische Fabrik» und Sport als «zentralen Lebensmittelpunkt». «Sein Körper ist sein Forschungsgegenstand».
«Als ich zwanzig war, verliebte ich mich in einen Schauspieler, der doppelt so alt war wie ich. Er war auch etwa doppelt so schwer», beginnt Nikitin die Geschichte seiner Identitätsfindung als Schwuler. Ein Satz, der eine zeitliche und ironische Distanz beinhaltet. Ein Satz, der ein Stück Leben zur Erzählung und damit fassbar macht. So, dass man es anderen unterbreiten kann.
Ein Coming-out heisst, anderen seine bis dahin geheime Geschichte zu erzählen. Zu sprechen. Sich nicht länger zu verschweigen. «Denn das ist die Utopie: nicht alleine zu sein. Wer schweigt, bliebt allein.» Nikitin wendet den Begriff Coming-out auf mehr an als auf den Akt des Sich-Erkennengebens von Schwulen, Lesben, Transsexuellen. Auch das Bekenntnis eines Glaubens oder der Wunsch zu sterben kann im Moment, da dies ausgesprochen wird, als Coming-out bezeichnet werden.
Als er seinem Sohn einen Einstieg in die eigene Hölle erlaubt, der unter die bis dahin so starke, gesunde Vater-Hülle geht. Als er zugibt, verletzlich zu sein. Zuerst sträubt er sich dagegen, will Exit in Anspruch nehmen, allmählich ergibt er sich, auch seiner Familie zu Liebe, versucht, das Sterben noch etwas hinauszuzögern, damit Platz ist, für alle Geschichten, die es noch zu erzählen gibt.
Zentral in Nikitins Text, der den Titel «Versuch über das Sterben» trägt, ist die Verletzlichkeit, in die man sich begibt, wenn man seine innersten Geschichten anderen ausliefert. Aber, sagt er, man muss Verletzlichkeit nur ins Englische übersetzen um zu sehen, dass ihr auch eine Ermächtigung zu eigen ist: Vulnerability. Oder Vulner-ability.
Dies ist ein persönlicher Nachsatz zu diesem Buch, das mich sehr berührt hat. Ich bin zehn Jahre älter als Boris Nikitin. Ich hatte mein Coming-out im gleichen Alter wie er. Ich kann nicht behaupten, dass es in jedem Winkel meines Lebens willkommen geheissen wurde. Und ich habe erlebt, wie sich direkte Feindseligkeit äussern kann. Dass jemand einen Blumentopf vom Balkon schmiss, als meine Freundin und ich Hand in Hand darunter durch gingen. Und anderes. Versuche, mich wieder in Unsichtbarkeit und Schweigen zurückzudrängen.
Im Moment der Befreiung wurde ich verwundbar. Liess ich alle Sicherheiten los. Nicht nur diejenigen auf der Strasse unter einem Balkon. Auch diejenigen, nach denen ich bisher meine Identität gebaut hatte.
Ich hatte damals einen kleinen Job als Hostesse an der Messe Basel, ein reines Frauenteam, darunter viele echte Damen, die ich sehr bewunderte. In den Pausen, wenn alle von ihren Männern schwärmten oder sich beklagten, schwieg ich lieber. Ich wollte nicht mit meinen Geschichten aus der neuen Freiheit stören oder gar belästigen. Ich blieb unter all den Frauen allein.
Die Dame, die ich am meisten bewunderte, trug den Namen Nikitin. Ihr damals noch recht kleiner Sohn war – Boris. Und wenn ich jetzt sein Buch lese, denke ich, dass nicht nur sein Vater, sondern auch sie alles richtig gemacht haben. Und dass mein verschämtes Schweigen damals so unnötig war wie jedes verschämte Schweigen.
Boris Nikitin: Versuch über das Sterben. Edition Frida, Chur 2020. 50 Seiten, ca. 19 Franken. Zu den Tourdaten von Boris Niktin geht es hier.