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Parlament erlaubt Überwachung von Versicherten

ARCHIV --- ZUR MELDUNG, DASS DIE SUVA VORLAEUFIG AUF DEN EINSATZ VON DETEKTIVEN VERZICHTET, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILD ZUR VERFUEGUNG --- Der Sitz der SUVA an der Roesslimattstrasse in Luzern, a ...
Dank intensiven Lobbyings der Suva hat das Parlament eine harte Gesetzesvorlage verabschiedet.Bild: KEYSTONE

Parlament erlaubt Überwachung von Versicherten

12.03.2018, 18:5912.03.2018, 20:36
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Versicherungsdetektive dürfen IV-Bezüger, Arbeitslose und Krankenversicherte bei Verdacht auf Missbrauch observieren. Eine richterliche Genehmigung brauchen sie nur für den Einsatz von GPS-Trackern. Das hat der Nationalrat als Zweitrat beschlossen.

Die grosse Kammer hiess die gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten am Montagabend mit 140 zu 52 Stimmen gut, gegen den Willen der Ratslinken. Die bürgerliche Mehrheit befand, die Massnahmen seien gerechtfertigt. Missbrauch schade dem System.

Der Zürcher SVP-Nationalrat Mauro Tuena sieht die Missbrauchsbekämpfung als Verdienst der SVP. Auf deren Druck seien etliche Fälle ans Licht gekommen, sagte er. Nun stehe die SVP nicht mehr alleine da mit der Forderung, gegen Betrüger vorzugehen.

High Heels trotz Gehbehinderung

Ruth Humbel (CVP/AG) stellte fest, Überwachung liege im öffentlichen Interesse, weil Missbrauch nur so aufgedeckt werden könne. Als Beispiel nannte sie eine Frau, die gemäss den Ärzten kaum gehen konnte. Überwachungsbilder hätten gezeigt, wie sie auf Highheels davon gestöckelt sei. Es handle sich um wenige Fälle, räumte Humbel ein. Das Verhalten der Betrüger schade aber dem Ruf aller.

Die Rednerinnen und Redner von SP und Grünen versicherten, auch sie seien gegen Missbrauch, doch müsse die Verhältnismässigkeit gewahrt werden. «Wir sind drauf und dran, unsere Privatsphäre zu opfern», sagte Silvia Schenker (SP/BS), «eines der wichtigsten Grundrechte». Das stehe in keinem Verhältnis zu dem, was zu gewinnen sei.

Im Schlafzimmer unter Beobachtung

Wegen ein paar hundert Personen, die zu Unrecht Leistungen bezögen, dürften nicht alle unter Generalverdacht gestellt werden, befand Schenker. Zahlen zeigten, dass ein Drittel der Observationen zu unrecht erfolge. Künftig müsse man damit rechnen, im Schlafzimmer beobachtet zu werden, wenn die Krankenversicherung wissen wolle, ob man wirklich mit Grippe im Bett liege.

Die Gegnerinnen und Gegner wiesen darauf hin, dass nicht einmal Angehörige terroristischer Organisationen ohne richterliche Genehmigung überwacht werden dürften. Auch gegen Steuerbetrüger gehe der Staat nicht auf diese Weise vor. SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer (BL) beantragte dem Rat erfolglos, die Vorlage an die Kommission zurückzuweisen.

GPS-Tracker mit Genehmigung

Bei den einzelnen Bestimmungen folgte der Nationalrat in den wichtigsten Punkten dem Ständerat und seiner Kommission. So sollen auch technische Instrumente zur Standortbestimmung - so genannte GPS-Tracker – eingesetzt werden dürfen. Solche werden vor allem an Autos angebracht.

Dafür braucht es aber eine richterliche Genehmigung. Der Nationalrat lehnte einen Antrag der SVP ab, die darauf verzichten wollte. Zudem regelte er das Verfahren für die Genehmigung. Eine Minderheit beantragte erfolglos, auch für Bild- und Tonaufnahmen einen Richter einzuschalten.

Überwachungsexzesse vermeiden

Der Bundesrat hatte GPS-Tracker nicht zulassen wollen. Sozialminister Alain Berset wies auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit hin. Ein Rechtsstaat wie die Schweiz sollte jegliche Überwachungsexzesse vermeiden, mahnte er. Weiter stellte er fest, dass nicht klar sein, was alles unter «technische Instrumente zur Standortbestimmung» fiele. So könnten auch Drohnen zum Einsatz kommen.

Wichtig sei, dass solches nicht ohne richterliche Genehmigung geschehe. Versicherungen dürften nicht mehr Mittel erhalten als die Strafverfolgungsbehörden. Berset machte ferner darauf aufmerksam, dass nicht nur IV-Bezügerinnen und -Bezüger betroffen sind. Das Gesetz gilt auch für die Unfall-, die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung.

Auch auf dem Balkon

Umstritten war zudem, wo Versicherte beobachtet werden dürfen. Wie bereits der Ständerat will auch der Nationalrat Observationen nicht auf allgemein zugängliche Orte wie Strassen und Parks beschränken. Betroffene sollen an allen Orten beobachtet werden dürfen, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind – beispielsweise auf dem Balkon.

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Nicht nur an öffentlichen Orten soll Überwachung erlaubt werden.Bild: KEYSTONE

Noch nicht einig sind sich die Räte in der Frage, wer eine Observation anordnen darf. Nach dem Willen des Ständerates dürfte das nur eine Person mit Direktionsfunktion. Der Nationalrat möchte dies auch anderen Personen der Versicherung erlauben, die mit dem Fall zu tun haben. Die Vorlage geht nun zurück an den Ständerat.

Folge eines Gerichtsurteils

Die Gesetzgebungsarbeiten gehen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zurück. Dieser hatte festgestellt, dass in der Schweiz eine klare und detaillierte gesetzliche Grundlage zur Observation von Versicherten fehlt. Wegen des Urteils mussten die IV und die Unfallversicherer ihre Beobachtungen einstellen.

Um diese wieder zu ermöglichen, wollte der Bundesrat im Rahmen einer Reform des Sozialversicherungsrechts eine gesetzliche Grundlage schaffen. Die Ständeratskommission beschloss aber, das Verfahren zu beschleunigen. Sie löste den Observationsartikel aus dem Reformpaket heraus und ergänzte diesen. (dwi/sda)

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85 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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scheppersepp
12.03.2018 19:43registriert Dezember 2015
Ja ja die paar Millionen sind es gewiss Wert um auf Privatsphäre zu verzichten und alle Leistungsbezüger unter Generalverdacht zu stellen. Aber die paar Milliarden die durch Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug dem System entzogen werden sind ja nicht relevant. Kann ja mal vorkommen das so ein paar Milliönchen vergisst bei der Steuererklärung anzugeben.
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DunkelMunkel
12.03.2018 19:41registriert November 2017
Tatsächlich ist es merkwürdig, dass so viel Fokus auf die Verfolgung von Sozialhilfemissbrauch gelegt wird und Steuerhinterziehung und Steuerbetrug verhältnismässig ignoriert wird, schlussendlich wäre in diesen beiden Bereichen mehr Geld zu holen, als beim Sozialhilfemissbrauch (wenn auch es dort natürlich auch Kontrollmöglichkeiten geben muss).
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letoni
12.03.2018 19:40registriert Februar 2018
Ich finds schlimm! als ob es die iv- bezieher nicht schon schwierig genug haben...jetzt werden sie noch unter generalverdacht gestellt und müssen evtl. mit einem heimlich angebrachten gps rechnen...hat die rechte keine anderen probleme? Trauriger tag!
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