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Warum jetzt nicht der Zeitpunkt ist, auf Woke-Linke einzuprügeln

epa09255442 Senate Budget Committee Chairman Bernie Sanders (I-Vt.) gives an opening statement during a hearing to discuss President Biden's budget request for FY 2022, at the US Capitol in Washi ...
Hat nichts mit der Niederlage in Virginia zu tun: Bernie Sanders.Bild: keystone
Analyse

Warum jetzt nicht der Zeitpunkt ist, auf Woke-Linke einzuprügeln

Ob Sahra Wagenknecht oder James Carville: Beide verunglimpfen einmal mehr eine vermeintlich abgehobene rot-grüne urbane Elite. Linke Selbstzerfleischung ist jedoch fehl am Platz.
07.11.2021, 15:27
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Zurzeit suchen an der Klimakonferenz in Glasgow Politiker und Fachleute nach Wegen, wie die Erderwärmung gestoppt werden kann. Angesichts der Dringlichkeit des Problems sind gerade auch Linke und Grüne gefordert, einen konstruktiven Beitrag dazu zu leisten.

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Wettert gegen Lifestyle-Linke: Sahra Wagenknecht.Bild: EPA/EPA

Sahra Wagenknecht, die nach wie vor prominenteste Linke Deutschlands, sieht das anders. Sie zieht es vor, auf eine vermeintliche Lifestyle-Linke einzudreschen. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» erklärte sie jüngst:

«Sie (die Lifestyle-Linken) haben keine Empathie und keinen Respekt für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie fordern Dinge, die das Leben dieser Menschen weiter verschlechtern würden.»

Am vergangenen Dienstag haben die Demokraten bei den Gouverneurswahlen im Bundesstaat Virginia eine schwere Niederlage erlitten. Für James Carville, den ehemaligen Wahlkampfmanager von Bill Clinton, war der Sündenbock rasch gefunden. In einem Interview mit dem öffentlichen TV-Sender PBS erklärte er:

«Ich sehe überall diese dumme Wokeness. Der «Defund-the-police»-Wahnsinn, oder die Forderung, Statuen von Abraham Lincoln an den Schulen zu entfernen: Diese Leute müssen eine Woke-Entgiftungskur machen. Sie sprechen eine Sprache, die kein Mensch mehr versteht. Deshalb kommt es nun auch zu einem Backlash.»

Es gibt diese «dumme Wokeness», von der Carville spricht. Doch sie für die Niederlage in Virginia verantwortlich zu machen, ist Unsinn. Die Schuld den Progressiven im Allgemeinen und Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez im Speziellen in die Schuhe schieben zu wollen, wie dies mein Kollege Peter Blunschi tut, ist ebenfalls verfehlt. Die Gründe liegen anderswo:

Die Menschen in Virginia wählen seit Jahrzehnten einen Vertreter der Partei, die gerade nicht an der Macht ist, zum Gouverneur. Und wenn es diesmal jemand vermasselt hat, dann sind es die konservativen Demokraten. Seit Monaten blockieren die beiden Senatoren Joe Manchin und Kyrsten Sinema den Infrastrukturplan ihres Präsidenten und verärgern damit die eigene Basis.

James Carville, a political commentator known for leading former President Bill Clinton's 1992 presidential campaign, smiles as Democratic presidential candidate Sen. Michael Bennet, D-Colo., bac ...
Prangert «dumme Wokeness» an: James Carville.Bild: AP

Joe Biden wurde als gemässigter Präsident gewählt. Sein «Build-back-better»-Plan ist kein Projekt der Progressiven. Sanders forderte ursprünglich sechs Billionen Dollar für ein Sozialprogramm und einen Green New Deal. Er akzeptierte, dass dieses Programm zuerst auf 3,5 und nun auf 1,7 Billionen Dollar gekürzt wurde.

Das Infrastruktur-Programm ist zudem alles andere als eine «sozialistische Wunschliste». Es sieht Dinge vor, die bei uns längst selbstverständlich sind (Mutterschaftsurlaub, bezahlbare Kitas), oder die dringend nötig sind (Investitionen in die Dekarbonisierung der Gesellschaft). Deshalb sind die einzelnen Punkte dieses Programms bei der Bevölkerung sehr populär. Das haben verschiedene Umfragen immer wieder gezeigt.

Eugene Robinson, Kolumnist bei der «Washington Post», fordert daher die Demokraten auf, in die Offensive zu gehen. Er stellt fest:

«Ich sehe nicht ein, weshalb die Demokraten angesichts dieser Tatsachen ängstlich sein sollten. Ich glaube, ihre einzige Hoffnung liegt darin, mutig zu sein – zu versuchen, die politischen Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, indem sie die politische Landschaft umkrempeln.»

Mit anderen Worten: Das Problem der Demokraten liegt derzeit nicht darin, dass sie unrealistische progressive Zielen verfolgen. Es liegt darin, dass sie unfähig sind, diese Ziele den Menschen zu vermitteln.

In der Schweiz haben wir im Sommer das CO2-Gesetz abgelehnt. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch die Lifestyle-Linke dafür an den Pranger zu stellen, ist Unsinn. Es zeigt sich auch hier, dass konkrete grüne Projekte durchaus mehrheitsfähig sind. In den Kantonen Bern und Glarus sind progressive Energiegesetze vom Stimmvolk angenommen worden, im Kanton Zürich werden einem solchen Gesetz bei der nächsten Abstimmung gute Chancen eingeräumt.

Es gibt auch bei uns, was Carville «dumme Wokeness» nennt. So kann man sich fragen, ob ein Frontex-Referendum wirklich das ist, was wir derzeit dringend gebrauchen können. Und ja, gelegentlich kann eine übertriebene Form von politischer Korrektheit auf die Nerven gehen.

Wir sollten jedoch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die SVP kopiert (fast) alles, was ihnen die Trump-Republikaner vormachen. Deshalb versuchen Blocher & Co. neuerdings, einen Aufstand der angeblich von Luxus-Sozialisten ausgebeuteten Landbevölkerung gegen die Städte anzuzetteln.

Nationalrat Thomas Matter, SVP-ZH, spricht waehrend einem Point de presse von einigen buergerlichen Parlamentariern. Sie fordern vom Bundesrat ?keine weiteren Corona-Einschraenkungen fuer Tourismus un ...
Ausgerechnet der steinreiche Goldküstenbanker Thomas Matter wettert gegen «Luxus-Sozialisten» in der Stadt.Bild: keystone

Dass sie damit ausgerechnet Thomas Matter, einen steinreichen Goldküsten-Banker, beauftragen, mag unfreiwillig ironisch sein. Dass sie jedoch einen Kulturkampf à la Trump suchen, ist offensichtlich. Ihnen dabei zusätzliche Munition zu liefern, ist vielleicht nicht Wokeness, aber sicherlich dumm.

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Die besten Bernie-Sanders-Memes von der Inauguration
Bild: watson/Emily Engkent
quelle: merie weismiller wallace/paramou
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Hat Joe Biden die Taliban unterschätzt? Offensichtlich ja.
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88 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mario 66
07.11.2021 16:02registriert November 2015
Solange die linke nicht an realistischen und konsensfähigen lösungen interessiert, sondern dem kindergarten (die jansens, funicellos usw.) nacheifern, werden sie sich den vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie den bürgerlichen in die karten spielen. Bestes beispiel heute wieder: verstaatlichung von sandoz - gehts noch?
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raues Endoplasmatisches Retikulum
07.11.2021 17:13registriert Juli 2017
Was ist die Aussage dieses Artikels?
Dass man Linke für ihre Ideen nicht mehr kritisieren darf, weil das den Rechten in die Händen spielt?
Ich sehe es anders herum, es ist IMMER die richtige Zeit, sowohl auf die "Woke-Left" als auch die "Racist-Right" einzudreschen.
Wenn ich eine Welt anstreben, in welcher Menschen nach ihrem Charakter und ihrer Leistung und nicht nach random traits wie Hautfarbe oder Herkunft beurteilt werden, muss ich gegen beide vorgehen.
Weil die einen an natürliche Hierarchien glauben und die anderen "Leistung" und "Charakter" als rassistische Konzepte ablehnen.
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PaLve!
07.11.2021 16:13registriert Juni 2017
Für viele Leute zählt halt schlichtweg, auf was für eine Sprache die Politiker ihnen Dinge vermitteln. So meinte mein Chef vor kurzem, dass ihm Alice Weidel (obwohl sie ihm zu rechts sei) gefällt. Als ich ich erwiderte, dass ich Sahra Wagenknecht die fähigste Politikerin in Deutschland finde, fand er diese ebenso gut. Dies weil beide es verstehen einfache Leute anzusprechen.
So geht es halt vielen Leute. Linke Parteien sind in unserem Kulturkreis nicht mehr Parteien der einfachen Leute, sondern von der gutsituirten, studierten Mittelschicht.
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