Er redete viel und wirkte teilweise konfus: Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) sorgte an der Medienkonferenz vom Mittwoch zu den Beziehungen Schweiz – EU bei nicht wenigen Beobachtern für Verwirrung. Eines aber liess sich aus seinen weitschweifigen Ausführungen heraushören: Die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen sind ziemlich weit fortgeschritten.
In den meisten umstrittenen Punkten scheint man eine Lösung gefunden zu haben oder sich grundsätzlich einig zu sein. In einem gewichtigen Streitpunkt allerdings gehen die Meinungen noch immer weit auseinander: den flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping. Die EU verlangt, dass die Schweiz ihre in den letzten Jahren verschärften Vorschriften übernimmt.
Offiziell ist dies für den Bundesrat weiterhin eine «rote Linie», die er nicht überschreiten will. Gleichzeitig kündigte Cassis an, das Wirtschaftsdepartement von FDP-Kollege Johann Schneider-Ammann werde «im Sommer die Meinung der Sozialpartner und der Kantone einholen». Der Bundesrat sondiert also einen möglichen Kompromiss bei umstrittenen Punkten wie der Acht-Tage-Regel.
In einem Interview mit Radio SRF hatte der Aussenminister angedeutet, die Schweiz könnte zu einer Verkürzung der Anmeldefrist Hand bieten, und damit die Gewerkschaften auf die Palme getrieben. Sekundiert wurden sie von SP-Präsident Christian Levrat: «Wie wir unsere Löhne schützen, geht Brüssel nichts an», sagte der Freiburger Ständerat im Interview mit dem «Blick».
Ohne die Gewerkschaften und die Linke sei «ein Rahmenvertrag nicht mehrheitsfähig, weil die SVP ja sowieso dagegen ist», sagte Levrat weiter. Damit dürfte er recht haben. Allerdings zeigt eine aktuelle Tamedia-Umfrage, dass die Basis der Linken ein solches Abkommen klar unterstützt. Rund drei Viertel der Anhänger von SP und Grünen sagen Ja oder eher Ja zum Rahmenvertrag.
Pikant: Die Online-Umfrage wurde etwas mehr als eine Woche nach dem ominösen Radiointerview von Ignazio Cassis durchgeführt. Zu jenem Zeitpunkt lief die Debatte über die flankierenden Massnahmen bereits auf Hochtouren. Der erbitterte Widerstand, den die Gewerkschaften angekündigt hatten, scheint beim linksgrünen Anhang auf wenig Widerhall zu stossen.
Dies erstaunt nicht. Vor der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 hatten die Grünen die Nein-Parole beschlossen. Ihre Basis hielt sich nicht daran, sie sagte laut VOX-Analyse zu 53 Prozent Ja. «Bekannte gestanden mir nach der Abstimmung, dass sie ebenfalls für den EWR-Beitritt votiert hatten», erinnerte sich die damalige Luzerner Nationalrätin Cécile Bühlmann im Gespräch mit watson.
Über die Gründe muss man nicht lange spekulieren. Die Wählerschaft der linken Parteien besteht zu einem beträchtlichen Teil aus urbanen Mittelständlern, die proeuropäisch denken, sei es aus Weltoffenheit, oder damit der Euro im Geschäft mit der EU weiter rollt. Für sie ist das Rahmenabkommen «Öl im Getriebe», wie es Ignazio Cassis in einer schrägen Metapher ausgedrückt hat.
«Wir opfern nicht die Löhne von Bauarbeitern für dieses Abkommen», sagte Christian Levrat im «Blick»-Interview. Mit solchen Ansagen könnte der SP-Chef an seiner eigenen Basis vorbei politisieren. Die städtische Hipster-Linke fühlt sich von Lohndumping kaum betroffen. Bei Bauarbeitern denkt sie überspitzt gesagt mehr an günstige Wohnungen als an faire Entlöhnung.
Sollte der Bundesrat am Ende des Sommers zum Fazit kommen, dass er ein Rahmenabkommen mit der EU abschliessen und «Modifikationen» bei den flankierenden Massnahmen in Kauf nehmen will, ist die Zerreissprobe bei der Linken programmiert. Falls die SP sich der gewerkschaftlichen Bunkermentalität anschliesst, dürfte sie von einem beträchtlichen Teil ihres Anhangs im Stich gelassen werden. Gut möglich, dass man in Bundesbern mit einem solchen Szenario spekuliert.
Für die Linke sind dies wenig erbauliche Aussichten. Die ehemalige Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann erinnert sich mit gemischten Gefühlen an die EWR-Abstimmung: «Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück.» Vielleicht nehmen die Gewerkschaften ein Scheitern des Abkommens aus diesem Grund bewusst in Kauf. Der Schweiz aber tun sie damit keinen Gefallen.
«Es ist ein Fakt, dass wir unseren Arbeitsmarkt zu einem gewissen Grad geschützt haben. Wen es betrifft, der hat einen Anspruch, dass dies so bleibt. Wie man es sicherstellt, darüber kann man diskutieren», sagte Bundesrat Schneider-Ammann im Interview mit watson und «Aargauer Zeitung». Dieser Grundsatz müsste auch der Linken einleuchten. Es dürfte ein interessanter Sommer werden.