Linksrutsch? Grünrutsch? Wie man die Verschiebung bei den Wahlen vom 20. Oktober auch bezeichnen mag, sie ist für hiesige Verhältnisse bemerkenswert. Und sie hat Auswirkungen auf die Arbeit im Parlament. Weil praktisch alle bürgerlichen Parteien verloren haben, werden es die Anliegen der Wirtschaft schwerer haben. Wer wird sonst geschwächt, und wer gestärkt?
Die Gewinne von Grünen und Grünliberalen werden ökologischen Anliegen einen Schub verleihen. Personell ist die Sache weniger eindeutig: Nur relativ wenige der 26 Neuen im Nationalrat bringen einen Öko-Background mit. Bei den Grünen betrifft es etwa den Neuenburger Biologen Fabien Fivaz und den Thurgauer Kurt Egger, Geschäftsleiter einer Energie- und Umweltberatungsfirma.
Bei den Grünliberalen kann man den Umweltnaturwissenschaftler Jörg Mäder oder die Physikerin und Energietechnikerin Barbara Schaffner erwähnen, die im Kanton Zürich gewählt wurden. Und den Klimatologen Thomas Brunner, der es in St.Gallen geschafft hat. Mit Valentine Python könnte eine weitere Klimatologin für die Waadtländer Grünen nachrutschen, falls Adèle Thorens Ständerätin werden sollte.
Vertreter der IT-Branche haben in den letzten Jahren oft über das mangelnde Verständnis für ihre Anliegen in Bern geklagt. «Dringlichkeit und Umsetzungswille sehen anders aus!», brachte es die Unternehmerin Sunnie Groeneveld im watson-Interview auf den Punkt. Im neuen Parlament dürften die Anliegen des Technologiesektors, etwa ein Startup-Visum, auf offenere Ohren stossen.
«Vergangene Legislatur waren wir etwa 15, jetzt sind wir schon mehr als 20 Parlamentarier, die in diesem wichtigen Thema eine Stimme sind», sagte der Luzerner SVP-Nationalrat und IT-Unternehmer Franz Grüter den Tamedia-Zeitungen. Ein wichtiger Neuzugang ist die Zürcher Grünliberale Judith Bellaiche. Sie ist Geschäftsführerin des Digitalwirtschafts-Verbands Swico.
Der neue Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt sieht sich als Startup-Vertreter, und der Freiburger Grüne Gerhard Andrey befindet sich als Gründer einer Webagentur an der Schnittstelle von grüner und digitaler Wirtschaft. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Mit jeder Wahl kommen mehr Digital Natives ins Parlament. Auch dies dürfte der Branche zugute kommen.
Die Bauern verfügen in Bern über weit mehr Macht, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung entspricht. Sie sorgten dafür, dass die Landwirtschaft in kaum einem Land so stark subventioniert wird, wie in der Schweiz. Rein zahlenmässig dürfte die Bauernvertretung in der neuen Legislatur etwa gleich stark bleiben, inhaltlich aber könnte es zu Verschiebungen kommen.
«Die Landwirtschaft wird nicht darum herumkommen, weitere ökologische Kröten zu schlucken», stellte die «Bauernzeitung» in ihrem Kommentar zu den Wahlen fest. Verantwortlich dafür sind Gewinne der Grün-Parteien. Für eine kritischere Haltung steht etwa der grüne Berner Nationalrat und Biobauer Kilian Baumann, Sohn des Politiker-Ehepaars Ruedi und Stephanie Baumann.
Ein Gegenvorschlag zur Trinkwasser- und zur Pestizid-Initiative, die beide vom Bauernverband bekämpft werden, ist nun möglich. Bei der Agrarpolitik 22+ dürften die Direktzahlungen vermehrt an ökologische Bedingungen geknüpft werden. Der Freihandel hingegen könnte es im neuen Parlament schwerer haben, was durchaus im Sinne der «traditionellen» Bauern wäre.
Für den Gewerbeverband, die grösste Wirtschaftsorganisation der Schweiz, war es ein rabenschwarzer Sonntag. Präsident Jean-François Rime (SVP) – abgewählt. Vorstandsmitglied Hansjörg Brunner (FDP) – abgewählt. Direktor Hans-Ulrich Bigler (FDP) – abgewählt. «Für die Wirtschaft wird es schwieriger, Anliegen durchzubringen», schrieb die «Schweiz am Wochenende».
Das betrifft nicht nur die Gewerbler. Die Konzernverantwortungsinitiative könnte im neuen Nationalrat laut NZZ mehrheitsfähig sein. Der Schweizer Finanzplatz dürfte beim Klimaschutz verstärkt unter Druck geraten. Der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser fordert, die Wirtschaft müsse «mit einer konstruktiven Position in der Klimathematik auf das Parlament zugehen».
Die Gegenseite hat ebenfalls einen durchzogenen Wahltag erlebt. Mit Corrado Pardini (Unia) und Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich wurden zwei «Schwergewichte» abgewählt. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass die Berner SP mit einer Frauen- und einer Männerliste angetreten war. Dafür schaffte Gewerkschaftsbunds-Präsident Pierre-Yves Maillard im Kanton Waadt die Rückkehr in den Nationalrat.
Gleiches gelang der VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber (Grüne) in Zürich. Ex-Juso-Präsidentin Tamara Funiciello und die Tessiner Grüne Gerta Gysin haben ebenfalls einen gewerkschaftlichen Background. Trotzdem sind die Arbeitnehmer-Organisationen im Parlament «weit entfernt von der Stärke ihrer besten Tage», so die Tamedia-Zeitungen.