Prowestlicher Selenskyj gewinnt absolute Mehrheit

Prowestlicher Selenskyj gewinnt absolute Mehrheit

22.07.2019, 17:52

Die proeuropäische Partei von Präsident Selenskyj kann in der Ukraine allein regieren. Mit ihrer starken Mehrheit im Parlament kann Selenskyi nun wichtige Reformen angehen und den Krieg in der Ostukraine beenden. Die Erwartungen sind hoch.

Nach einem in der Geschichte der unabhängigen Ukraine beispiellosen Wahlerfolg will der prowestliche Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einer Parlamentsmehrheit das Land aus der Krise führen. Der 41-Jährige gewann nicht nur über die Liste seiner in die EU und Nato strebenden Partei Diener des Volkes eine Mehrheit, sondern auch überraschend viele Direktmandate.

Selenskyj kann demnach mit mehr als 240 der 424 Abgeordneten ohne Koalitionspartner regieren, wie seine Partei mitteilte. Erst ging der frühere Komiker Selenskyj noch davon aus, dass er mit dem Kuschelrocker Swjatoslaw Wakartschuk eine Koalition eingeht, um das Land aus der Krise zu führen. Die offizielle Auszählung der Stimmen dauerte am Montag an.

Die Wahlkommission in Kiew sprach aber von einem ordnungsgemässen Verlauf der Abstimmung am Sonntag. Auch die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) lobten die Wahl in der Ex-Sowjetrepublik als demokratisch. Sie sei transparent und gut organisiert gewesen. Selenskyj hatte am Wahlsonntag noch von möglichen Koalitionsverhandlungen gesprochen. Nun kann er mit einer absoluten Mehrheit alleine regieren.

Novum in der Geschichte des Landes

Das hat bislang noch keine Partei der Ex-Sowjetrepublik seit ihrer Unabhängigkeit geschafft. Nach Auswertung von mehr als 60 Prozent der Stimmzettel lag die Partei Selenskyjs mit dem Namen Diener des Volkes (Sluha Narodu) am Montagnachmittag bei knapp 42.68 Prozent. Beobachtern zufolge wurde bei der Abstimmung eine ganze Abgeordnetengeneration abgewählt, die in den vergangenen 20 Jahren das politische Geschehen in dem Krisenland mitbestimmte.

In nur sieben Monaten hat es Selenskyj geschafft, nicht nur die Präsidentenwahl im April im zweiten Wahlgang mit einem Rekordergebnis von 73.4 Prozent zu gewinnen. Er hat auch eine Partei aus dem Nichts zum Erfolg geführt.

Die Erwartungen an Selenskyj sind nun gross. Seine Partei versprach im Wahlkampf, den Krieg im Osten des verarmten Landes zu beenden und die Korruption zu bekämpfen. Dieses Ziel bekräftigte der frühere Schauspieler auch am Wahlabend. Vorrangige Aufgabe sei zudem, ukrainische Gefangene aus Russland zurückzuholen, sagte der Staatschef.

Machtbasis geschaffen

Mit der vorgezogenen Neuwahl erreichte Selenskyj sein Ziel, sich mit seiner neuen Partei eine eigene Machtbasis im Parlament zu schaffen. Bislang war Diener des Volkes nicht in der Obersten Rada vertreten, was eine Umsetzung der geplanten Reformen Selenskyjs behinderte.

Er erzielte seinen Erfolg allerdings bei der niedrigsten Wahlbeteiligung in der jüngeren Geschichte der Ukraine. Nicht einmal die Hälfte der 30 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.

Ursprünglich sollte die Volksvertretung erst im Oktober neu gewählt werden. Selenskyj zog die Abstimmung jedoch vor, weil es in der Rada keine regierungsfähige Koalition mehr gegeben hatte.

Votum gegen die politische Klasse

Der Kiewer Politologe Alexej Jakubin sieht den Erfolg Selenskyjs vor allem in der Unzufriedenheit vieler Ukrainer. «Einer der Hauptverantwortlichen für diese Wahlrevolution ist Ex-Präsident Petro Poroschenko», sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Kiew. «Poroschenkos Regierung hat bei der Mehrzahl der Bürger der Ukraine dermassen Ablehnung hervorgerufen, die sich am Ende auf die gesamte politische Klasse übertragen hat.»

Poroschenko konnte sich aber mit seiner Partei Europäische Solidarität als drittstärkste Kraft mit rund acht Prozent der Stimmen unter den insgesamt fünf vertretenen Parteien ins Parlament retten. Die mit dem Abgeordnetenmandat verbundene Immunität war dem Oligarchen besonders wichtig.

Gegen den früheren Staatschef gibt es zahlreiche Anzeigen, darunter wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Amtsmissbrauchs. Selenskyj hat bereits als eines der ersten Gesetze angekündigt, die Abgeordnetenimmunität und damit den Schutz vor Strafverfolgung aufzuheben.

Prorussische Opposition auf Platz 2

Zweitstärkste Kraft wurde die prorussische Oppositionsplattform mit knapp 13 Prozent der Stimmen. Parteichef Juri Boiko sagte, dass die Wahl die krisengeschüttelte Ukraine wieder auf einen friedlichen und normalen Weg zurückbringe.

Insgesamt schafften fünf der 22 Parteien den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. Darunter waren auch die Vaterlandspartei von Ex-Regierungschefin Julia Timschenko sowie die Partei Stimme des Kuschelrocksängers Swjatoslaw Wakartschuk.

26 Sitze im Parlament bleiben leer - sie sind der von Russland annektierten Halbinsel Krim und den von den pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine vorbehalten. Die Wahlbeteiligung sank mit einem Wert von 49.8 auf den niedrigsten Stand seit der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion.

Hoffnung auf Entspannung mit Moskau

Erste Reaktionen aus dem Nachbarland Russland waren zunächst verhalten. Selenskyj müsse noch politische Reife zeigen, schrieb der Aussenpolitiker Konstantin Kossatschow auf Facebook. «Die politische Kindheit und Jugend ist für Präsident Selenskyj somit beendet. Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung», sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Oberhaus.

Der Aussenpolitiker Leonid Kalaschnikow wertete den Erfolg der prorussischen Oppositionsplattform als positives Zeichen, dass sie sich für eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau einsetzen werde.

Sie sind nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim vor gut fünf Jahren und wegen der Kämpfe zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen im Osten des Landes zerrüttet. Dort starben nach Uno-Schätzungen seit 2014 rund 13'000 Menschen.

In dem Kriegsgebiet gilt seit Sonntag eine neue Waffenruhe. Beide Seiten des Konflikts warfen sich am Montag gegenseitig eine Verletzung der Feuerpause vor. (sda/dpa/afp)

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