Kafi Freitag - Das Buch
Die 222 besten Fragen und Antworten in einem schön gestalteten und aufwendig hergestellten Geschenkband.
Liebe Ivana
Ich kann Sie sehr gut verstehen. Zumal Ritalin heute ein sehr begehrter Enhancer ist, gerade bei Studenten und Menschen, die viel Stoff reinpauken müssen. Da kann es leicht passieren, dass man das Gefühl bekommt, man würde mit einer verbotenen Dopingsubstanz im Blut an den Start gehn.
Aber dem ist in Ihrem Fall nicht so, liebe Ivana. Wenn Sie ein Mensch mit ADHS sind, dann funktioniert Ihr Hirn anders, als wenn ein Student Ritalin als Leistungsförderung spickt. Dieser nimmt die Tablette, damit er möglichst lange wach ist und die Warnsignale des Körpers (Müdigkeit, Hunger, Durst) aushebeln kann. Bei Ihnen hat der Wirkstoff Methylphenidat eine andere Wirkung. Er unterstützt Sie dabei, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren und nicht 100 Sachen nebenher zu machen. Wenn Sie seriös abgeklärt wurden (damit meine ich von einer Fachstelle für ADHS, nicht nur von einem Hausarzt oder einem Psychiater der nicht darauf spezialisiert ist), dann haben Sie das Medikament verschrieben bekommen, weil Ihre Aufmerksamkeitsspanne bedeutend kürzer ist, als bei einem Menschen ohne ADHS. Die Substanz verhilft Ihnen daher nicht zu einem Vorsprung, sondern zu halbwegs gleichen Startbedingungen, wie andere Studenten sie haben.
Halbwegs darum, weil der Preis dafür recht hoch ist. Die Wirkung von Methylphenidat bekommt man nicht umsonst, der Körper hat einiges an Nebenwirkungen auszuhalten. Und die Seele auch, weil sich dadurch auch die Wahrnehmung verändern kann. Ich kann verstehen, dass man einem jungen Menschen ADHS verschreibt, wenn man merkt, dass er es durch die ADHS-Symptome schwer hat, sich im Schulsystem zurechtzufinden. Gleichzeitig finde ich es auch etwas unverantwortlich, weil man sich in diesem Alter noch nicht gut kennt und darum gar nicht bewusst wahrnehmen kann, wie sehr einen die Substanz verändern kann. (Das Gleiche gilt übrigens für die Antibabypille, die man ohne grosse Bedenken 13-jährigen Mädchen in die Hand drückt, die dann mit seelischen Nebenwirkungen der Hormone klarkommen müssen, ohne diese im Kontext der Pille zu erkennen.)
Mir ist bewusst, das ADHS und Ritalin ein ganz grosses Reizthema ist. Das hat damit zu tun, dass den wenigsten wirklich bewusst ist, was ADHS genau bedeutet. Der Begriff ist im deutschsprachigen Raum sehr negativ konnotiert. AHDS ist für viele eine Krankheit und gehört behandelt.
Man kann ADHS aber auch aus einem anderen Blickwinkel anschauen. Was, wenn es gar keine Krankheit ist, sondern einfach eine andere Art, zu denken und zu handeln? Und was, wenn man viel Positives aufgibt, um dank starker Medis in ein System zu passen, in das man eigentlich nicht gehört? Ich bin selber Mutter und frage mich, wie ich mit der Thematik umginge, wenn mein Kind betroffen wäre. Aus meiner Coachingpraxis weiss ich, dass ADHS Menschen oft sehr charismatisch und kreativ sind. Sie haben zwar Mühe damit, linear zu denken, kommen aber genau deswegen auf mutigere Lösungen. Sie sind nicht stark darin, Projekte bis ins kleinste Detail fertigzustellen, aber sie verfügen über mehr Freude am Risiko und können dafür Grossartiges anreissen.
ADHS kann eine grossartige Chance sein, wenn man die Talente richtig kanalisiert und die Schwächen handeln kann. Unser Schulsystem ist nicht dafür gemacht, es ist für einen Menschen mit ADHS viel zu eng und grosse Teile der Berufswelt auch. Ihre Eltern können das entweder nicht verstehen, oder aber Sie verstehen es und haben Angst, dass Sie Ihren Weg nicht finden werden. Es ist nichts Falsches daran, wenn Sie Ihr Studium jetzt mithilfe von Ritalin oder ähnlichen Medikamenten stemmen. Aber grundsätzlich müssen Sie sich früher oder später mit der Frage auseinandersetzen, ob Sie weiterhin Methylphenidat schlucken und ins 0815 System passen möchten, oder ob Sie sich irgendwann aus dem schematischen Denken emanzipieren und einen eigenen, stimmigen Weg finden möchten.
Einige meiner KundInnen haben ADHS und alle klagen über den Hang zur Prokrastination. Aber praktisch alle haben mir bestätigt, dass sie in letzter Sekunde ungeahnte Kräfte und Kreativität mobilisieren können und das Endresultat meistens stimmt. Wenn ich mit solchen Menschen zusammenarbeite, dann stelle ich oft fest, dass es mehr die Glaubenssätze sind, die hemmen und blockieren und weniger die Arbeitstechnik selber. Man hat früh eingeimpft bekommen, dass es nicht gut ist, alles auf den letzten Drücker zu machen. Dass es so nicht geht. Aber wer genau sagt das eigentlich? Wenn ich diese Fragen stelle und diese Art zu arbeiten und zu funktionieren aus einem anderen Blickwinkel her beleuchte, dann atmen die meisten meiner ADHS KundInnen auf. «Es ist also ok, wenn ich es so mache», fragen sie mich dann? Im Prinzip schon. Ausser, sie arbeiten in einem System, in dem nicht das Endergebnis, sondern auch der Weg dahin bewertet wird. Dann wird diese Arbeitsweise zu einem Stolperstein.
Und genau das ist meine Überzeugung. ADHS muss kein Problem sein, wenn man in stimmigen Kontext arbeitet. Aber es ist sicherlich ein grosses Problem, wenn man Fliessbandarbeit leisten soll. Dann ist die Aufmerksamkeit nach kürzester Zeit weg und es passieren Fehler. Wenn man aber die Hyperfokussierung nutzt, die ADHS auch mit sich bringt, dann kann ein ADHS'ler sehr viel erreichen.
In den USA ist man ein Stück weiter als bei uns und versucht ADHS nicht als Krankheit, sondern als andere Form des Denkens zu sehen. Es gibt Bücher zur Thematik «Hunter vs. Farmer» oder Bücher, welche aufzeigen, dass viele wichtige Unternehmer unserer Zeit ADHS haben und daraus einen Vorteil ziehen. Es gibt eine amerikanische Bewegung, die ADHS (in amerikanischen ADHD) als Superpower bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum habe ich nicht viel Vergleichbares gefunden, dieser Blog hier geht in eine ähnliche Richtung.
Ich weiss, dass ich in meiner Antwort mal wieder etwas ausgeholt habe. Aber es ist mir ein Anliegen, da ich immer mehr Erwachsenen und Kindern begegne, die mit der Thematik konfrontiert sind und darunter leiden. Sie haben grosses Glück, dass man Sie erkannt hat, liebe Ivana. Viele Mädchen werden in der Schulzeit nicht abgeklärt, weil sie – anders als Jungs – nicht zappelig und anstrengend, sondern eher in sich gekehrt und still sind. Ich hoffe sehr, dass ich Sie etwas auf meinen Umweg mitnehmen und aufzeigen konnte, dass man als ADHS'ler einen Weg mit oder ohne Medikation gehen kann. Es ist beides ok und es geht nur darum, den für sich richtigen Weg zu finden. Sie sind 21 Jahre alt, und selbst wenn Ihre Eltern für Ihr Studium aufkommen und sich wünschen, dass Sie diesen Weg gehen, müssen Sie das nicht tun. Sie sind erwachsen und haben das grosse Privileg, Ihren eigenen Weg gehen zu dürfen.
Mit herzlichem Gruss. Ihre Kafi.