Ich staune. Ich vergesse mein nächstes Ziel und ignoriere, dass sich im Hintergrund diverse Maschinen mit ihren gierigen Augen zusammenrotten, um mich zu zerfleischen. Meine Aufmerksamkeit gehört jetzt aber ganz allein der aufgehenden Sonne, die eine zerklüftete Landschaft in ein solch majestätisch malerisches Rot eintaucht, wie ich es noch nie zuvor in einem Videospiel gesehen habe. Also stehe ich nun da alleine auf einem Felsvorsprung und lasse die Kamera um Aloy kreisen. Es ist ein Moment der Stille, der Erhabenheit und auch der Ehrfurcht. Es wird nicht der letzte sein ...
Aloy ist ganz schön im Stress: Hat sie gerade noch in einer weit, weit entfernten Zukunft eine Apokalypse verhindert, droht nun auch schon bereits die nächste. Eine Plage breitet sich in der neuen Welt aus. Menschen werden krank, Wasser und Nahrungsmittel sind verseucht und auch immer mehr Robotertiere verhalten sich aggressiver denn je. Zusätzlich sorgen unvorhergesehene Stürme für mächtiges Unbehagen. Ihr versteht nur Bahnhof? Dann wollen wir noch etwas tiefer graben ...
«Horizon Forbidden West» ist der Nachfolger von «Horizon Zero Dawn». Ein Videospiel, das 2017 für Begeisterungsstürme sorgte. In einer postapokalyptischen Welt, die viele hundert Jahre nach unserer Zeitrechnung angesiedelt ist, wurde das Angesicht der Erde komplett verändert. Die menschliche Zivilisation hat sich in eine archaische Gesellschaft zurückentwickelt. Staaten gibt es nicht mehr, sondern Stämme, die sich die Welt aufgeteilt haben. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist Vergangenheit und nur noch ein Mythos.
In dieser neuen Welt haben sich krude Tierwesen, die aus Maschinenteilen bestehen, entwickelt und machen das Leben der Menschen, die sich langsam aus dem Untergrund wagten, schwer. Der Grund für diese neue Ordnung ist (sehr kurz zusammengefasst) eine künstliche Intelligenz, die es irgendwie zu Beginn gut meinte, dann aber doch ein paar Fehlfunktionen hatte.
Eine erneute Säuberung durch (sehr kurz zusammengefasst) unerwartete Umstände konnte durch Aloy im ersten Teil verhindert werden. Die Auserwählte muss jetzt aber in der Fortsetzung nochmals dafür sorgen, dass es nicht zu einer weiteren globalen Katastrophe kommt. Zu diesem Zweck sammelt sie alle Kräfte und dringt immer mehr in den titelgebenden verbotenen Westen in Nordamerika vor, um sich auf die Suche nach Verbündeten zu machen und das Schicksal der gesamten Menschheit erneut abzuwehren.
Ihr merkt schon, wer den Vorgänger nicht gespielt hat, steht storytechnisch ziemlich auf dem Schlauch. Zwar gibt es zu Beginn des Spiels eine Orientierung, was vorher geschah, doch diese ist viel zu kurz und man ist auf eigene Recherchen angewiesen.
Aloy macht sich also nun auf den Weg in den Westen. Auf ihrer Heldinnenreise trifft sie auf alte Bekannte, neue Weggefährten und auch neue Kontrahenten, die alle ein anderes Ziel verfolgen. Dabei ist es den Spielenden überlassen, ob sie von den vielen Dialogmöglichkeiten alle Infos einpackt oder nur das Notwendigste auf die weitere Reise mitnimmt.
Wer richtig tief in die Mythologie eintauchen möchte, zieht sich natürlich alles rein und macht sich zusätzlich auf die Suche nach Audiodateien und schriftlichen Hinweisen zu den Geschehnissen, die weit, weit vor unserer Zeit ihren Lauf nahmen.
Auf ihrer Reise bekommt unsere Heldin übrigens neue Fähigkeiten spendiert. Aloy kann mit einem technischen Hilfsmittel von einem Hügel oder Berg auf die Ebene hinab gleiten, darf endlich mit einer Maske tief unter Wasser tauchen und bekommt selbstverständlich jede Menge neue Waffen und Fähigkeiten serviert, um sich individuell aufzuleveln. Wie beim Vorgänger werden dazu zahlreiche nützliche Gegenstände aufgesammelt, die sich in der freien Natur oder beispielsweise in versteckten Truhen befinden sowie von den besiegten Gegnern zurückgelassen werden.
Wie schon beim Vorgänger sind die Roboterwesen die heimlichen Stars im Spiel. Maschinen, die die Form von Dinosauriern und anderen Urzeittieren besitzen, haben immer noch eine intensive Anziehungskraft. Zu den bereits aus dem Erstling bekannten Wesen haben sich jetzt noch viele neue Varianten dazugesellt, die auch hier wiedermal für offene Münder sorgen. Ja, das Artdesign dieser Flora und Fauna raubt einem schlicht den Atem.
Atemberaubend sind auch die Kämpfe gegen diese stampfenden Tierarten, die taktisches Geschick und eine grosse Portion Verbissenheit benötigen. Ja, das Schwärmen für diese Welt, es will gar nicht mehr aufhören. Guerrilla Games präsentiert hier eine Spielwelt, die organischer nicht sein könnte. Alles wirkt wie aus einem Guss. Der Drang, alles bis ins kleinste Detail zu erkunden, ist gross. Der Sog ist perfekt.
Immer wieder kommt man vom Pfad der Hauptgeschichte ab, weil in der weiten Ferne ein Berg lockt oder Aloy sich plötzlich in einer Nebenmission befindet, die mit einem besonderen Drama für Aufmerksamkeit sorgt. Dabei ist diese offene Spielwelt nie anbiedernd und schreit nie danach, gespielt zu werden. Sie ist einfach da und wartet geduldig, dass wir sie entdecken und lieb haben.
Trotz imposanter Spielwiese und spielerischem Hochgenuss hat «Forbidden West» ein Problemchen: Die Ungewissheit und die Neugier, warum diese Welt so ist wie sie ist und woher eigentlich diese neuartigen Tierwesen kommen, das waren diese grossen Mysterien, die uns beim Erstling so sehr an den Bildschirm gefesselt haben.
Man konnte einfach gar nicht anders, als ununterbrochen weiterzuspielen, um endlich hinter das Geheimnis dieser Apokalypse zu kommen. Dies alles ist aber bei der Fortsetzung logischerweise nicht mehr vorhanden. Die Welt und somit auch die Spielenden wurden aufgeklärt und werden nun als mündige Bürgerinnen und Bürger in dieses Zukunftsszenario geworfen.
Das ist schade, war aber unvermeidbar und vorhersehbar. Und dennoch schafft es die Fortsetzung, ein paar neue unbeantwortete Fragen in den Raum zu werfen. Sie sind zwar nicht mit dem riesigen Fragezeichen des Erstlings vergleichbar, schaffen es aber trotzdem, dass wir neugierig der Hauptstory folgen. Ob diese neuen Versatzstücke jedoch auch wirklich in diese Welt hineinpassen und eine gewisse Logik mit sich bringen, muss jeder und jede selber entscheiden.
Fazit: Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Egal wo die Reise hingeht, immer wieder muss innegehalten werden, um diese Spielwelt, dieses famose Artdesign dieser archaischen Gesellschaft aufzusaugen. Der Sog wird immer grösser und zieht einen schliesslich komplett in den Bann.
Mitverantwortlich für diesen Sog ist auch unsere Protagonistin, die man regelmässig umarmen möchte. Die Last, die unsere Auserwählte Aloy auf ihren Schultern trägt, ist so enorm, dass wir sie jederzeit spüren und mit ihr mitfiebern. Wir verstehen ihre emotionalen Hänger, ihre Angst und den Druck. Voller Tatendrang bleiben wir an ihrer Seite und leiden mit, bis sie endlich am Ziel ihrer Reise ist.
Ja, «Horizon Forbidden West» ist nur ein Spiel, aber eines, das Emotionen weckt, uns komplett einlullt und wo das Staunen gar nicht mehr aufhören möchte. Wunderschön.
«Horizon Forbidden West» ist erhältlich für Playstation 5 und Playstation 4. Freigegeben ab 16 Jahren.