Simon Moser und Nino Niederreiter provozieren beim Gegner 7,9 Sekunden vor Schluss ein Eigentor. Die Schweiz gewinnt zum Olympia-Auftakt gegen Lettland 1:0.
Wenn in alten Zeiten eine furchtbare Flutwelle durchs Emmental brauste und bis nach Burgdorf hinunter alles mitriss, dann sagten die Emmentaler: Der «Eggiwil-Fuhrmann» kommt.
Diese Flutwelle entstand, wenn sich die Wasserfluten nach starken Gewittern im Räbloch ob Eggiwil, ganz zuhinterst im Emmental, stauten und dann meterhoch durch das Bett der Emme ins Tal schossen.
Dabei soll die Emme einmal einen Fuhrmann samt Ross und Wagen mitgerissen haben. Und die Sage geht, dass dieser Fuhrmann mit seinen Pferden keine ewige Ruhe gefunden hat und jetzt noch auf den Flutwellen durchs Tal braust, die schnaubenden Pferde vorgespannt. Das alles ist von Jeremias Gotthelf in «Die Wassernot im Emmental» zu einem Stück Weltliteratur verarbeitet worden.
Was hat das alles mit dem olympischen Eishockeyturnier in Sotschi zu tun? Nun, ein Emmentaler namens Simon Moser ist über die tapferen Letten gekommen wie der Eggiwil-Fuhrmann. Dem finalen, wuchtigen Ansturm des Emmentalers waren die bedauernswerten Letten nicht mehr gewachsen. Wie eine Naturkatastrophe, wie das Hochwasser der Emme, riss der kräftige Flügel Lettlands Abwehr auf.
Dieser 39. und letzte Abschlussversuch bringt den Schweizern exakt 7,9 Sekunden vor Schluss das erlösende 1:0. Es passt zu diesem intensiven, schnellen und dramatischen Spiel, dass dieser Treffer nicht das Resultat eines letzten Angriffsversuches ist. Dieses finale 1:0 ist so etwas wie das Nebenprodukt einer Defensivaktion. «Ich wollte einfach die Scheibe aus unserem Drittel rausbringen, damit wir nicht noch ein Tor kassierten», schildert der letztjährige Captain der SCL Tigers watson die wohl aufregendste Szene seiner bisherigen Karriere. «Es war eigentlich eine Defensivaktion. Die Zeit war aber noch nicht ganz um, also stürmte ich weiter nach vorne, sah auf einmal Nino Niederreiter und spielte den Pass.»
Das Zuspiel kommt beim Adressaten nie an. Aber Verteidiger Georgijs Pujacs, vom bissigen Nino Niederreiter aus dem Konzept gebracht, lenkte den Puck ins eigene Tor. Eine bitterere Niederlage ist eigentlich nicht denkbar.
Es ist letztlich ein «nordamerkanisches Tor» der beiden aktuellen NHL-Stürmer Simon Moser (Nashville) und Nino Niederreiter (Minnesota). Mehr das Produkt von Kraft, Mut, Wille, Entschlossenheit und Aggressivität als von reinem Talent, Technik und Tempo.
Moser und Niederreiter sind mit ihrem intensiven, furchtlosen Spiel auf den Aussenbahnen die wirkungsvollsten Schweizer Offensivspieler – so gesehen ist es durchaus logisch und verdient, dass die beiden Silberhelden von Stockholm die Entscheidung herbeigeführt haben. «Es war nicht unbedingt mein schönstes Tor», sagt Simon Moser, «aber sicher das wichtigste.»
Vor einem Jahr noch im Abstiegskampf mit den SCL Tigers, jetzt in der NHL und schon ein Olympiaheld. «So ist eben Sport. Es geht mal abwärts, aber auch wieder aufwärts und nicht aufgeben zahlt sich aus.»
Die «Hockey-Titanic», unsere teuerste und nominell beste Mannschaft aller Zeiten ist also doch noch gut aus dem olympischen Hafen ausgelaufen und hat Fahrt aufgenommen. Im ersten «richtigen» Spiel nach der Silber-WM ist die Mannschaft an der Favoritenrolle nicht zerbrochen.
Die Titanic konnte dem ersten Eisberg gerade noch ausweichen. Die Schweizer gerieten nicht in Panik, als sie Chance um Chance verpassten (39:21 Torschüsse). Sie waren beim ersten Test als «Vize-Weltmeister» bei einem Titelturnier mental erstaunlich robust.
Als WM-Finalist ist die Schweiz bei Titelturnieren nun gegen Teams wie Lettland (in Stockholm bloss WM-11.) klarer Favorit. So wie sich die Grossen gegen uns einst schwer taten, so hatten wir nun Schwierigkeiten mit einem vermeintlich «kleinen» Gegner mit nur einem NHL-Profi und zwei NLA-Stars (Kenins/ZSC, Daugavins/Servette). Zwei Drittel des Teams kommen aus der KHL. «Wir haben gezeigt, dass wir mit dieser Situation umgehen können», sagt Nationaltrainer Sean Simpson.
Bei der nächsten Partie gegen Schweden (Freitag, 13.30 Uhr Schweizer Zeit) sind wir allerdings nicht mehr Favorit. Schliesslich haben wir ja gegen die Schweden das WM-Finale 1:5 verloren.