Mel Young, der Homeless World Cup (HWC) behauptet: «Ein Ball kann die Welt verändern!» Ist es wirklich so einfach?
Mel Young: Klar sind Armut oder Obdachlosigkeit nicht einfach zu lösen. Aber meist
werden soziale Probleme als unlösbar schwierig betrachtet, und deshalb versucht man erst gar nicht sie anzupacken. Ich bevorzuge einfache Lösungen zu finden. Fussball ist
ein simples Spiel, und wir sehen ja die kleinen und grossen Erfolge, die wir in über 70
Ländern damit erreicht haben. Als aktuelles Beispiel: Mexiko hat heute eine Liga von 26'500
Spielerinnen und Spielern.
Mexico ist mit Carlos Slim, einem
der reichsten Männer der Welt als Sponsor ein nicht besonders repräsentativer Glücksfall.
Nehmen wir Brasilien. Der 2-fache Weltmeister
kämpft jedes Jahr mit Geldproblemen.
Ja, aber auch in Mexico fing alles mit einem Ball an. Nach anfänglichen
Problemen entwickelte sich dort die weltweit grösste Obdachlosenliga. Nun
interessieren sich auch andere Firmen als Slims Telmex für das Projekt und die Leute
kommen an die Turniere, um ihr Team zu unterstützen.
Also ist die Rolle der Homeless World Cup Organisation, den Ball zu spielen. Die Länder
müssen den Steilpass aber selbst verwerten?
In Fussball-Metaphern gesprochen ja. Wir sind der Katalysator. Oder um hier
beim Turnier zu bleiben. Wir bauen die Street-Soccer-Arenen, die Infastruktur, damit
die Menschen spielen können. Aber bei all unserer Arbeit: Die Bühne gehört den
Spielern.
Das sind schöne Worte, die auch aus dem Mund von FIFA-Präsident Sepp Blatter stammen
könnten.
Klar, die Leute erzählen viel, aber was zählt sind die Taten. Ich kann für unsere
Worte vor jedem Gericht einstehen und belegen, dass wir wirklich machen, was wir
versprechen.
Wie ist ihr Verhältnis zur FIFA?
Ich liebe den Profi-Fussball und schaue gerne Turniere wie die
Weltmeisterschaften. Das Problem ist, dass die Medien, Behörden und auch die Fans
meinen, das sei der einzige Fussball. Wir nutzen die Power dieses Sportes, um
nachhaltig Probleme zu lösen. Zum Glück wachsen Verständnis und Interesse für soziale
Fussballprojekte. Selbst grosse Verbände wie die UEFA nutzen nun ihre Macht für
gesellschaftspolitische Anliegen, wie etwa der Kampf gegen Rassismus.
Trotzdem sind die Verbände weit entfernt von den Fans.
Wie unser Ambassador Emmanuel Petit sagt: Fussball ist der Spiegel
unserer Gesellschaft. Da sind die Gelder ja auch sehr ungerecht verteilt. Die reichen
Vereine bekommen via Champions League immer mehr Geld, während die kleinen
weiter in die Bedeutungslosigkeit abdriften. Irgendwann wird das den Profifussball
zerstören.
Die Mehrheit der Fans kritisiert die Geldmaschinerie der grossen Fussballverbände schon
länger.
Sie sind derzeit wohl der einzige Verbandspräsident, der bei seinen Reden nicht
ausgepfiffen wird.
Ja, ist das nicht schön? Ich muss mich auch nicht aus den Stadien schleichen,
sondern kann mich mitten in die Spieler setzten. Das gefällt mir. So bekomme ich mit,
wofür ich arbeite.
Wie gross ist denn das Budget für einen HWC?
Für die Organisation über das ganze Jahr benötigen wir 500'000 Euro. Der
Event selber kostet je nach Austragungsort eine bis zweieinhalb Millionen.
Nicht viel für
acht Tage Ballspektakel mit 64 Teams und über 500 Fussballerinnen und Fussballer.
Ungefähr die Kosten eines Champions League Spieles. Andererseits ist es viel Geld, wenn
es um die Beschaffung geht. «Homeless» als Brand ist nicht besonders sexy. Wir müssen
immer viel Überzeugungsarbeit leisten.
In den vergangenen Jahren nutzen Spieler den Homeless World Cup auch, um sich
abzusetzen. Sind darum heute weniger afrikanische Teams mit dabei?
Nein, Südafrika und Nigeria fehlten schlicht das Geld. Aber es stimmt schon: Die VISA-
Beschaffung für die Spieler, die Schweiz und ähnliche Länder ausgenommen, ist eines
der arbeitsintensivsten Felder. Darum könnten wir nie einen HWC in den USA
durchführen. Seit Melbourne 2008 hatten wir zum Glück keine HWC-Flüchtlinge mehr.
Wir haben unsere Arbeit in diese Richtung auch intensiviert und mussten Teams
ablehnen, wo sich Spieler absetzten. Denn wenn wir diesen Ruf hätten, würde kein Land
mehr den HWC durchführen.
Man kann einer Spielerin aus dem Bürgerkriegs versehrten Sierra Leone schwerlich
vorwerfen, wenn sie die Chance auf einen Neuanfang nutzt.
Nein, aber wir müssen auch die Chancen für alle anderen Spieler schützen.
Deshalb können wir keine Teams aus kriegsführenden Nationen spielen lassen, bis die
Lage in ihrem Land wieder stabil ist. Die Arbeit vor Ort versuchen wir natürlich
trotzdem weiterzuführen. Sowieso bringt es mehr, dort zu investieren, wo die Probleme
sind. Man muss den Menschen zuhause eine Perspektive aufzeigen. Aber auch, dass sie
dort, wo angeblich das Gold lockt, mit Sicherheit obdachlos sein werden und sie
ausserhalb ihres sozialen Umfeldes noch viel weniger Perspektiven haben.
Wie prüfen sie, ob die Projekte aller Länder tatsächlich nachhaltig arbeiten und, dass die
Spieler den Homeless World Cup Regeln entsprechen?
Nebst der Vertrauensbasis, die wir über die letzten elf Jahre mit Projekten wie
Surprise Strassensport in der Schweiz aufgebaut haben,
informieren wir uns über ein Netzwerk von Freunden in vielen Ländern. Generelle
Spielerkriterien aufzustellen ist jedoch unmöglich, da die sozialen Probleme und die
Projekte so unterschiedlich sind wie die Standards der Länder.
Und die Spielstärken der Mannschaften? Hier dominieren meist die Teams armer Nationen.
Spieler aus europäischen Teams haben oft einen Drogen- oder Alkohol-
Hintergrund. Die südamerikanischen oder afrikanischen Spieler dagegen stammen aus
unglaublicher Armut, sind aber körperlich topfit. Ein Schweizer Spieler interviewte mich
2007 in Kopenhagen und beklagte sich, dass es unfair ist, wie stark die Südamerikaner
spielen. Ich erklärte ihm, dass dieses Team täglich um sechs Uhr aufsteht und trainiert,
und dass die Schweiz eher Siegeschancen hätte, wenn sie das auch täten. Er meinte dann
nur: Unser Coach würde nie um sechs Uhr aufstehen.
Das Turnier zeigt auch vielen Schweizer Spielern, die erstmals ihr Land verlassen, was Armut bedeuten kann. Schliesslich tauschen sich die Spieler in den
Teamunterkünften rege aus.
Ja, Spieler aus reichen Nationen sehen auf den Strassen Santiagos wohl Armut,
die sie sich niemals vorstellen konnten. Aber das gilt auch umgekehrt. Afrikanische
Spieler sagten mir erstaunt: Ich dachte nie, dass auch weisse Menschen obdachlos sein
können.
In der Schweiz sitzen die FIFA und die UEFA. Wann zieht der HWC zu uns?
(Lacht) Ich lebe nun mal in Edinburgh, aber ein Umzug würde logistisch und
finanziell sicher Sinn machen. Wir wurden sogar eingeladen, von Schottland in die
Schweiz zu wechseln.
Von wem?
Von der Regierung, als Adolf Ogi noch bei der UNO aktiv war. Ein sehr guter
Mann. Ich erinnere mich noch gut wie er sagte: Spooort can change the wooorrld!