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Eurovision Song Contest

ESC 2024 und Israel: Die Chronologie einer schwierigen Beziehung

Der ESC und Israel: Kugelsichere Westen, ein trans Star und Proteste

Wenn sich eine Institution wie der ESC auf die Fahne schreibt, unter keinen Umständen politisch zu sein, ist sie das garantiert. Immer wieder. Wie das Beispiel Israel aktuell zeigt.
03.05.2024, 19:4704.05.2024, 14:21
Simone Meier
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2024: Boykottforderungen und Terrorgefahr

Für Eden Golan wird der ESC 2024 kein schönes Erlebnis. Die zwanzigjährige Israelin darf nämlich ausserhalb ihrer Auftritte das Hotelzimmer nicht verlassen, Malmö ist zu gefährlich für sie. Eden Golan ist die Zielscheibe heftiger antiisraelischer Proteste. Sie wird am 9. Mai zum ersten und möglicherweise letzten Mal auftreten, im zweiten Halbfinal, als Vierzehnte, zehn Plätze hinter Nemo.

Zuerst musste sie Titel und Text ihres ESC-Beitrags ändern, aus «October Rain» wurde «Hurricane», die Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 durfte keine Rolle spielen. Schliesslich sei der ESC keine politische Veranstaltung, so wollen es die Verbandsregeln der European Broadcasting Union (EBU).

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Rund 250 niederländische Kulturschaffende (hier ein paar davon) fordern den niederländischen Rapper Joost Klein auf, den ESC wegen Israel zu boykottieren.Bild: keystone

Doch die Proteste gegen die Teilnahme Israels reissen nicht ab, das Sicherheitsdispositiv im schwedischen Malmö ist riesig, die Armee ist involviert, Demonstrationen mit bis zu 20'000 Teilnehmenden sind angekündigt. Niederländische und britische ESC-Fans und Kulturschaffende forderten ihre ESC-Acts auf, den Wettbewerb zu boykottieren.

Am 2. Mai veröffentlichte der Nationale Sicherheitsrat von Israel eine Reisewarnung für Malmö, es gäbe «gut begründete Befürchtungen», dass es während des ESC zu Terroranschlägen kommen könnte.

Aber was ist eigentlich Israels Geschichte mit dem ESC?

Wieso nimmt Israel überhaupt am ESC teil?

Israel ist seit Beginn Mitglied der European Broadcasting Union, der EBU, die 1950 gegründet wurde, um in einem Sendegebiet, das ein weit grösseres geografisches Gebiet als Europa umfasst (nämlich auch nordafrikanische und vorderasiatische Staaten), Inhalte auszutauschen und Übertragungsrechte zu bündeln. News, Sport und Musik waren dabei zentral.

Da der Sitz der EBU seit 1950 in Genf liegt, war die Schweiz in den Gründungsjahren auffallend präsent, auch die Idee, ein länderübergreifendes Musikfestival im Stil von San Remo zu veranstalten, kam vom damaligen Generaldirektor des SRF. Und so fand 1955 in Lugano der erste Grand Prix d'Eurovision de la Chanson (der erst seit 1992 ESC heisst) statt. Sieben Länder nahmen teil. Und die Schweizerin Lys Assia gewann.

Diese Länder sind aktuell in der EBU

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Bild: alex great/wikipedia

1973: Ilanit und die Scharfschützen-Gefahr

Dass Israel schon bald von der EBU zur Teilnahme am Grand Prix eingeladen worden war, diese jedoch immer ausgeschlagen hatte, weil der israelische Rundfunk kein Budget dafür hatte, erfuhr die israelische Sängerin Ilanit per Zufall 1972 in Deutschland. Sie befand sich auf Tour und ein deutscher Produzent schlug ihr vor, für Deutschland anzutreten. Ilanit recherchierte, entdeckte, dass sie genauso gut für ihr Heimatland antreten dürfte, und beschloss, 1973 auf eigene Kosten an den Grand Prix nach Luxemburg zu reisen.

ARKIV 1973 - Ilanit framför Israels bidrag i 1973 ars Eurovisionsschlagerfestival. LUXEMBURG x450x *** ARCHIVE 1973 Ilanit performs Israels entry in the 1973 Eurovision Song Contest LUXEMBOURG x450x P ...
Ilanit versprühte 1973 viel Hippie-Chic.Bild: www.imago-images.de

Was absehbare Folgen hatte: Am 5. September 1972 hatten palästinensische Terroristen in München das olympische Dorf der israelischen Delegation attackiert. 11 der 14 israelischen Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele kamen dabei ums Leben. Als der Grand Prix am 7. April 1973 im Théâtre Municipal von Luxemburg über die Bühne ging, trug Ilanit eine kugelsichere Weste. Dem Publikum war es nicht gestattet, sich während des Wettbewerbs von den Sitzen zu erheben, man befürchtete Scharfschützen im Saal, das Polizeiaufgebot war massiv. Ilanit wurde Vierte mit «Ey sham» («Irgendwo»), es kam zu keinen Zwischenfällen, Israel hatte sich erfolgreich im Wettbewerb integriert.

1978: Israels erster Sieg

Im September 1973 gingen die arabisch-israelischen Kriege mit dem Jom-Kippur-Krieg in eine weitere Phase. Im März 1978 folgte ihm unter dem Titel Operation Litani der Einmarsch israelischer Truppen im Libanon. Und wenige Wochen später, im April 1978, gewann Israel zum ersten Mal und überraschend den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson in Paris. Izhar Cohen und The Alpha-Beta sangen mit «A-Ba-Ni-Bi» ein lüpfiges Lied über die Liebe aus Kindersicht, das alle entzückte.

«A-Ba-Ni-Bi»

Am 31. März 1979 fand der Grand Prix daher zum ersten Mal in Israel statt, im International Convention Center in Jerusalem. Die Türkei blieb dem Wettbewerb in jenem Jahr fern, verschiedene arabische Staaten hatten sie dazu gedrängt, nicht in Israel aufzutreten.

1979: Israel gewinnt schon wieder!

Und Israel? Gewann erneut. Der Look der Band Milk & Honey war identisch mit dem der Vorjahressieger, unschuldiges Weiss und züchtige Kleider. «Hallelujah», das zeitgleich mit der hebräischen Wettbewerbs-Fassung auch in einer englischen Version erschien, war ein prototypisches Friedenslied. Im Kalten Krieg eins der grossen ESC-Erfolgsrezepte – die Deutsche Nicole gewann drei Jahre später mit «Ein bisschen Frieden». 1979 verlieh Deutschland übrigens null Punkte an Israel.

Die englische Fassung von «Hallelujah»

Und Israel? Was not amused. Einmal hatte man sich den ESC knapp leisten können, doch ein zweites Mal war finanziell nicht möglich. Die Niederlande sprangen ein, Den Haag richtete den ESC 1980 aus.

1980: Israel nimmt nicht teil

Da Den Haag den ESC 1980 ausgerechnet auf den israelischen Nationalfeiertag Jom haZikaron gelegt hatte, also auf den Gedenktag für die Kriegsgefallenen und für die Opfer terroristischer Anschläge, entschied sich Israel gegen eine Teilnahme. Marokko, das sich wie alle nordafrikanischen Länder bis dahin geweigert hatte, neben Israel am ESC mitzumachen, nutzte die Gelegenheit, endete auf dem zweitletzten Rang und schwor erzürnt, dem ESC für immer fernzubleiben.

1998: Dana International macht den ESC queer

Bereits 1961 gewann der schwule französische Sänger, Schauspieler und Kostümdesigner Jean-Claude Pascal den ESC für Luxemburg. In «Nous les amoureux» besang er eine bedrohte, gefährdete Liebe – erst später gestand er, dass er damit explizit eine Liebe zwischen zwei Männern gemeint hatte, für das Publikum von 1961 war sein Chanson einfach eine weitere Romeo-und-Julia-Geschichte. 1997 siegte Grossbritannien mit Katrina and the Waves, dem Friedenslied «Love Shine a Light» – und der lesbischen Frontfrau Katrina Elizabeth Leskanich.

«Love Shine a Light»

Doch erst 1998 war die wahre und offenherzige Geburtsstunde des ESC als queeres Weltevent: Israel schickte mit Dana International und «Diva» eine trans Frau in den Wettbewerb, die erste und bis heute einzige trans Person am ESC.

Dana International (bürgerlich heisst sie Sharon Cohen) stammte aus einem sehr einfachen Elternhaus und der ESC war der jährliche Höhepunkt in ihrem Leben. Sie liebte die überbordende Theatralik des Wettbewerbs, genau diese Art von Showbiz war ihre Vorstellung vom Paradies. Mit 13 wusste sie, dass sie eine Frau sein wollte, mit 18 begann sie eine erfolgreiche Karriere als Dragqueen, 1993, mit 24, unterzog sie sich in London einer Geschlechtsangleichung.

Dana International in Birmingham

Ihre Nominierung für den ESC in Birmingham führte unter der ultraorthodox-jüdischen Bevölkerung Israels zu grossen Protesten, und mehrere Länder drohten damit, ihren Auftritt nicht zu übertragen. Doch Dana liess sich nicht einschüchtern, sie kam, sang und siegte mit dem selbstreferentiellen Hit «Diva». Mit einem Sieg hatte sie nicht gerechnet, «die Stimmung in Israel war damals derart angespannt», sagte sie 2018 im «Guardian», «mein einziges Ziel war, mich nicht zu blamieren.»

1998 konnte das Publikum zum ersten Mal über Televoting direkt mit abstimmen. Einzig in Ländern, in denen Televoting nicht möglich war, etwa, weil das Telefonnetz zu schwach war, kamen Jurys zum Einsatz. Dana war sich sicher, dass sie ihren Sieg einer überragenden Anrufquote des queeren Publikums verdankte. Ab 2001 wurden wieder Jurys mit eingesetzt. «Vielleicht haben sie das System zurückgesetzt, weil ich gewonnen habe», sagte sie, «aus Angst, dass die queere Community übernehmen würde.»

Bildnummer: 58126106 Datum: 11.05.2011 Copyright: imago/Future Image
Dana International (Israel) Kost�mproben f�r das zweite Halbfinale des Eurovision Song Contest 2011 in der Esprit Arena, D�sseldor ...
2011 versuchte Dana International ihr ESC-Glück noch einmal mit «Ding Dong». Vergeblich.bild: imago

Ihren israelischen Kritikern sagte sie: «Mein Sieg beweist, dass Gott auf meiner Seite ist. Ich möchte meinen Kritikern eine Botschaft der Vergebung senden und ihnen sagen: Versucht, mich und die Art von Leben, die ich führe, zu akzeptieren. Ich bin, was ich bin, und das bedeutet nicht, dass ich nicht an Gott glaube, und ich bin Teil des jüdischen Volkes.»

Aus der Künstlerin, die wenige Jahre zuvor vom israelischen Radio und Fernsehen ignoriert worden war, weil sie jugendverderbende Botschaften verbreitet habe, war über Nacht das Postergirl eines neuen, queer-freundlichen Israels geworden.

2019: Die queere Community vs. Israel

2018 gewann die Israelin Netta mit «Toy» und der Imitation eines gackernden Huhns den ESC von Lissabon. Und obwohl Tel Aviv seit vielen Jahren eines der Hauptreiseziele der queeren Community und ein wichtiger Lieferant queerer Filme war, schlug die Stimmung um. Über 60 LGBTQ-Organisationen solidarisierten sich 2019 mit Palästina, riefen zu einem Boykott des ESC in Israel auf und warfen Israel Pinkwashing und Ablenkung vom Kriegsgeschehen in Gaza vor.

Netta will kein «Toy» sein

Gut 50 britische Kulturschaffende riefen die BBC in einem öffentlichen Brief dazu auf, den ESC aus Tel Aviv nicht zu übertragen, darunter Vivienne Westwood, Ken Loach, Mike Leigh, Peter Gabriel und Julie Christie. History repeating.

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158 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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HenryJames
03.05.2024 20:39registriert Februar 2018
Natürlich ist der ESC politisch und das seit Jahrzehnten, seit der Osterweiterung. Es hat mit dem ursprünglichen Gedanken des "Chanson d'Eurovision" nix mehr zu tun und darum auch vernachlässigbar.
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HerbertBert
03.05.2024 20:37registriert Juni 2018
Auch ohne die ganzen Kriege war der ESC politisch. Allein das ewige Voting der Nachbarländer hat doch dazu geführt, dass wieder eine Jury eingeführt wurde.
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JabbaThaHutt
03.05.2024 20:39registriert März 2023
An die "warum Russland und nicht Israel?" Leute: Ist das wirklich euer ernst? Russland führt seit 2 Jahren einen Angriffskrieg auf ein souveränes Land. Verschleppt Kinder, richtet ganze Dörfer hin.

Israel reagiert einmal mehr auf einen schrecklichen Terror-Anschlag, an dem 1250 Leute starben und immer noch 150 als Geiseln gehalten werden von der Hamas, einer Terrororganisation, die die palestinenensische Bevölkerung unterdrückt und als Schutzschilde benutzt... Hier herrscht seit der Gründung von Israel Krieg und der wird auch nie enden.

Beides 2 komplett unterschiedliche Situationen.
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