Wieder geistert die Angst vor einem grossen Krieg durch den Nahen Osten. Wieder canceln Airlines wie Lufthansa und Swiss Flüge in die Region. Es ist ein Szenario, das sich seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor bald einem Jahr in unschöner Regelmässigkeit wiederholt. Nun droht eine Eskalation an der israelischen Nordgrenze.
Ursache ist die Explosion Tausender Pager und Funkgeräte, mit denen die von Iran unterstützte Schiitenmiliz Hisbollah kommunizierte. Israel hat sich nicht dazu bekannt, doch es gilt als gesichert, dass es sich um eine Operation des Auslandsgeheimdienstes Mossad handelte. Er soll die Geräte mit Sprengstoff präpariert haben.
Über den genauen Vorgang wird intensiv spekuliert. Mindestens 37 Menschen kamen ums Leben, mehr als 3000 wurden teilweise schwer verletzt. Viele sollen erblindet sein, weil sie auf den Pager schauten, bevor er detonierte. Obwohl sich Unschuldige unter den Opfern befinden, darunter Kinder, handelt es sich um eine logistische Meisterleistung.
Für die Hisbollah ist sie eine Blamage ohnegleichen. Ihr Anführer Hassan Nasrallah, der sich seit Jahren in den Bunkern von Beirut verstecken soll, kündigte in einer Fernsehansprache am Donnerstag Vergeltung an: «Dieser kriminelle Akt kommt einer Kriegserklärung gleich.» Kurz danach attackierte Israel aus der Luft zahlreiche Hisbollah-Ziele im Libanon.
Ist dies der Auftakt zu einer grossen Eskalation? Bei nüchterner Betrachtung spricht einiges dagegen. Keine der Parteien hat ein echtes Interesse daran.
Seit Beginn des Gaza-Kriegs im letzten Oktober beschiesst die von westlichen Staaten als Terrororganisation eingestufte Hisbollah den Norden Israels mit Raketen. Rund 60’000 Israelis wurden evakuiert. Die Rückkehr in ihre Häuser hat für Regierung und Armee höchste Priorität. Sie haben den Fokus zuletzt von Gaza an die libanesische Grenze verlegt.
Einen regionalen Krieg möchte die Armeeführung laut der «Times of Israel» aber vermeiden, nicht zuletzt auf Drängen der USA. Die Frage ist ohnehin, wie weit Israel dazu in der Lage wäre. Der Gaza-Krieg gegen die Hamas ist seit bald einem Jahr im Gang, und die Armee verfügt nicht über unendliche Ressourcen, etwa für eine Bodenoffensive im Libanon.
Trotz martialischer Rhetorik würden die Vorbereitungen nicht auf einen ausgewachsenen Krieg hindeuten, sagte Oded Eilam, ein ehemaliger Mossad-Kadermann, der «Washington Post». Umso mehr stellt sich die Frage, warum die Pager und Walkie-Talkies ausgerechnet jetzt explodierten. Das Timing sei «nicht optimal gewesen», meinte Eilam.
Eine plausible Erklärung lautet, dass sie als Geheimwaffe gedacht waren für den Fall, dass die Hisbollah einen Grossangriff auf Israel lanciert hätte. Doch einige Kämpfer hätten Verdacht geschöpft, weshalb die Detonationen vorzeitig ausgelöst wurden. Auch das ist denkbar, denn bei einer derart aufwendigen Operation läuft nie alles rund.
Der Schaden für die Hisbollah ist dennoch beträchtlich. Ihre Kommunikationsnetze wurden zerstört. Und auch wenn die Miliz über mehrere Zehntausend Kämpfer verfügt, waren die Geräte kaum für das «Fussvolk» bestimmt, sondern für Funktionsträger. Diesen logistischen und personellen «Aderlass» muss die Organisation erst einmal verkraften.
Hinter der Hisbollah steht Iran. Das erklärte Ziel des Mullah-Regimes ist die Tilgung des «zionistischen Gebildes» von der Landkarte. Irans Botschafter in Beirut soll ebenfalls einen der ominösen Pager besessen und bei der Explosion ein Auge verloren haben. Nun steht erneut die Möglichkeit eines Vergeltungsschlags von Teheran gegen Israel im Raum.
Mit einem solchen wird gerechnet, seit der Hamas-Anführer Ismail Hanija vor rund zwei Monaten in Teheran durch eine Explosion getötet wurde. Als Urheber wird auch in diesem Fall der Mossad vermutet. Vertreter der Revolutionsgarde, für manche Beobachter das eigentliche Machtzentrum im Iran, schlossen einen Angriff auf Israel jedoch fürs Erste aus.
«Die Frist bis zu einer Antwort könnte lange dauern», sagte ihr Sprecher Ali Naeini. Iran hat allen Grund, sich Zeit zu lassen und eine Reaktion genau zu überlegen. Denn es droht ein Krieg mit Israel, den USA und womöglich Saudi-Arabien und damit gegen drei militärisch hochgerüstete Staaten. Das ist kaum im Interesse der Machthaber in Teheran.
Fast ein wenig aus dem Fokus geraten ist der Gaza-Krieg, trotz des endlosen Leidens der Zivilbevölkerung und der bis zu 100 israelischen Geiseln. Verteidigungsminister Joav Galant erklärte kürzlich, die Hamas existiere als «militärische Formation» nicht mehr. Besiegt ist die Terrortruppe aber nicht, wie die Anfang September gefundenen sechs toten Geiseln zeigen.
Sie wurden offenbar «von Hamas-Terroristen brutal ermordet, kurz bevor wir sie erreichten», sagte Armeesprecher Daniel Hagari. Die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, bestätigten dies faktisch: Es gebe «neue Anordnungen» an die Bewacher für den Fall, dass sich israelische Truppen dem Versteck der Geiseln nähern sollten.
Offenbar will die Hamas die Geiseln lieber töten, als ihre Befreiung zu riskieren. Das erhöht den Druck auf einen Deal, über den seit Monaten ergebnislos verhandelt wird. Eine grosse Mehrheit der israelischen Bevölkerung spricht sich dafür aus. Nun wird Hamas-Anführer Jihia Sinwar offenbar freies Geleit angeboten, wenn gleichzeitig alle Geiseln freikommen.
Man fragt sich, wie ernst man dieses Angebot nehmen soll. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu scheint weiter auf Zeit zu spielen. Das sieht offenbar auch die US-Regierung so. Sie geht gemäss dem «Wall Street Journal» davon aus, dass es vor dem Ende von Joe Bidens Amtszeit im Januar 2025 keinen Geisel-Deal samt Waffenstillstand geben wird.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Netanjahu auf einen Wahlsieg von Donald Trump hofft. Allerdings steht er auch von einer anderen Seite unter Druck. Der saudische Kronprinz und Machthaber Mohammed bin Salam betonte am Mittwoch in einer Rede, diplomatische Beziehungen mit Israel gebe es erst nach der Gründung eines Palästinenserstaates.
Die Lage wirkt in mancher Hinsicht verfahren, und im Pulverfass Nahost genügt ein Funke für eine gewaltige Explosion. Trotzdem spricht derzeit wenig für ein solches Szenario.
Ideal wäre, wenn man dies die Hisbollah nicht verkraften lässt.