Für Antony Blinken war es ein Déjà-vu. Zum neunten Mal seit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel vor bald einem Jahr weilte der US-Aussenminister in der Region. Und erneut musste er ohne greifbares Ergebnis die Rückreise antreten. Die Gespräche über eine Waffenruhe im Gazastreifen unter Vermittlung von Ägypten und Katar kommen nicht vom Fleck.
«Wir müssen die Vereinbarung einer Waffenruhe und Geisel-Freilassung über die Ziellinie bringen», sagte Blinken bei seiner Abreise aus Doha. Doch Israel und die Hamas scheinen weiterhin auf Zeit zu spielen. Eine klare Mehrheit der Israelis ist laut Umfragen für einen Deal, doch Benjamin Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner lehnen ihn kategorisch ab.
Dabei scheint eine Einigung dringlich, denn es droht ein Vergeltungsschlag Irans gegen Israel für die Tötung von Hamas-Anführer Ismail Hanija vor rund drei Wochen in Teheran. Der Anschlag wurde vermutlich vom Geheimdienst Mossad verübt. Israel hat sich dazu wie üblich nicht geäussert. Irans oberster Führer Ali Chamenei drohte mit harter Bestrafung.
Nun aber gibt es aus dem Iran Signale, dass ein Angriff auf Israel zumindest vorläufig kein Thema ist. Ali Mohammad Naeini, ein General und Sprecher der Revolutionsgarde, sagte am Dienstag gemäss staatlichen Medien, es werde «kein übereiltes Vorgehen» geben: «Die Zeit ist auf unserer Seite, und die Frist bis zu einer Antwort könnte lange dauern.»
Beobachter halten die Revolutionsgarde für das eigentliche Machtzentrum im Iran. Eine Wortmeldung aus diesen Reihen hat entsprechendes Gewicht. Naeini deutet auch an, dass der Gegenvorschlag «anders als bei früheren Operationen» ausfallen könnte. Damit ist vermutlich der Angriff auf Israel mit rund 300 Drohnen und Raketen im April gemeint.
Ähnlich äusserte sich Mohsen Rezai, ein ehemaliger Kommandeur der Revolutionsgarde, am Dienstag in einem Interview mit CNN. Die iranische Reaktion werde «sehr kalkuliert» erfolgen. «Wir werden nicht erlauben, dass Netanjahu sich aus dem Sumpf retten kann, in dem er versinkt», sagte Rezai. Auch das deutet darauf hin, dass es vorerst ruhig bleibt.
Allerdings betonte Mohsen Rezai, es brauche «einen baldigen Waffenstillstand in Gaza». Dies liesse sich als Fingerzeig an die von Iran unterstützte Hamas interpretieren, ihre eigene harte Haltung in dieser Frage zu überdenken. Denn Kenner der Region glauben, dass Iran bestrebt ist, eine Eskalation oder gar einen Flächenbrand zu vermeiden.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Israel hat angedeutet, dass seine Reaktion auf einen iranischen Angriff weitaus heftiger ausfallen könnte als im April. Damals kam es zu einem eher symbolischen Raketenbeschuss. Ein Angriff auf wichtige Infrastrukturen wie Kraftwerke oder Ölraffinerien könnten Irans angeschlagene Wirtschaft weiter schwächen.
Eine Eskalation würde zudem Irans Verhältnis zu den arabischen Nachbarn belasten, das der neue Präsident Massud Peseschkian verbessern möchte. Er wird im September vor der UNO-Generalversammlung auftreten und gemäss der «New York Times» eine Botschaft von Wandel und Mässigung vermitteln, «nicht von Krieg und Zerstörung».
Und schliesslich könnte Iran zur simplen Erkenntnis gelangt sein, dass ein massiver Vergeltungsschlag am Ende zu gar nichts führen würde, so die «New York Times». Es ist ein durchaus mögliches Szenario. Denn nichts zählt für Ali Chamenei und sein Regime mehr als der Machterhalt. Ein grosser Krieg in der Region könnte sie letztlich zu Fall bringen.
Das macht es durchaus plausibel, dass die «Frist» bis zu einer Antwort sehr lange dauern könnte. Die Kriegsgefahr ist damit aber nicht gebannt. Eine Eskalation zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah ist jederzeit möglich, auch wenn beide Seiten sie eigentlich nicht wollen. In der Nacht auf Mittwoch kam es erneut zu heftigen gegenseitigen Angriffen.